Tiranas Akademiker und der postsozialistische Handel

Überlebensstrategien einer Lehrerfamilie in der albanischen Hauptstadt/ Englischunterricht und Kaugummiverkauf  ■ Aus Tirana Stephanie Schwandner

Zerschlissene Wäsche auf den Balkonen der vierstöckigen Mietshäuser. Abbröckelnder Putz, altrosa und tiefgelb unter dem windschiefen Antennenwald. Notdürftig und erfindungsreich abgedichtete Fenster, teils glaslos. „Pallatet“ (deutsch: „Paläste“) nennen die Tiraner ihre Bauten ohne Ironie. Nicht gerade an einen Palast erinnert auch das orientalische Markttreiben auf dem Dach des Wohnblockbunkers. Paprika, Knoblauch, Salatköpfe und Lauch, ausgebreitet auf den wenigen trockenen Flecken des Betons, werden hier angeboten. Wären nicht die unzähligen Abfallhaufen, denen die Einkäufer ebenso wie den knöcheltiefen Pfützen ausweichen müßten – man könnte fast von einer Idylle sprechen. Der Markt auf dem Palast, von der Außenwelt abgeschnitten.

„Draußen“ quietschen Bremsen, hupen Autos meist veralteter westeuropäischer Produktion im Konkurrenzkampf mit Pferdefuhrwerken und den noch kaum verkehrsgewohnten Fußgängern. Auch die Autofahrer sind vom ständigen Ausweichen in Anspruch genommen. Die Augen starr stets nur auf das Stück Straße vor sich gerichtet, führt der Slalom zwischen deckenlosen Gullys und Schlaglöchern hindurch. Wenige Führerscheine sind älter als anderthalb Jahre.

„Geh nicht zu den Primitiven“, fegt die neunundvierzigjährige Lehrerin Theuta Ruka mein Interesse am Marktgeschehen auf dem Palastdach abfällig beiseite. Die Marktfrauen kommen aus den Dörfern rings um Tirana. Ihr Kleidung sieht wie eine Tracht aus, die Bäuerinnen tragen weiße Kopftücher und handgewebte bunte Schürzen über den schwarzen Röcken. Grün-graue türkische Kaffeebohnen hat Theuta bei ihnen erstanden.

Während die frischen Bohnen auf einem Blech im Ofen rösten, fällt zum zweiten Mal heute der Strom aus. Theuta seufzt. Ihr Mann Agron (52), Physiklehrer, müht sich mit dem Ausnehmen zweier Fische für das nun verzögerte Kochen ab. Aus China wurden die Süßwasserfische eingeführt, und obwohl sie voller Gräten sind, gelten sie als seltene Delikatesse. Der bessere albanische Fisch wird für Valuta dagegen fast ausschließlich nach Italien ausgeführt.

Familie Ruka gehört zu der weitgehend untereinander bekannten und verwandten inteligencia Tiranas, aus der sich auch die führenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens „rekrutieren“.

Theutas Schwager ist der medienbekannte Vorsitzende einer neuen Partei; der beliebte Nachrichtensprecher ein Cousin ihres Mannes. Doch die Zugehörigkeit zu dieser Schicht und das stolze Bildungsideal machen nicht satt. Die Söhne Genci und Agim müssen sich für zwei Monate die Küchenbank zum Schlafen teilen. Für einen DM-zahlenden Gast rückt die Familie zusammen. Sie hat keinen nach Griechenland, Italien oder Deutschland geflüchteten Familienangehörigen, der ihnen Devisen schickt. Und so müßten sie mit dem Verdienst von Theuta und Agron auskommen. Dies jedoch ist unmöglich. Ein Lehrer verdient monatlich knapp über 2.000 Lek (etwa 20 Dollar). Wenigstens 150 Dollar braucht eine Familie in Tirana heute monatlich für das Allernotwendigste.

In der türkischen Handmühle mahlt Theuta den Mokka. Da die Stromversorgung immer noch nicht steht, kocht sie ihn über einem mit Spiritus getränktem Wattebausch. Während sie sich die Finger verbrennt, beginnt sie über den jüngsten Schülerstreik zu sprechen. Die Menschen hätten ihre Wut über das kommunistische System nach der Wende des Jahres 1991 vor allem an staatlichen Einrichtungen ausgelassen. Zu Bruch gingen dabei auch die Fenster des Schulgebäudes, in dem Theuta arbeitet. Nun sitzen die Schüler in Wintermänteln – die im übrigen aus westeuropäischen Kleidersammlungen stammen – in den Bänken. Die Heizungen und das Licht funktionieren selbst dann nicht, wenn das städtische Stromnetz kurze Zeit der unvorhergesehenen Belastung durch die neu eingeführten Elektroheizungen, -öfen, -waschmaschinen und -boiler standhält.

Der oft tagelange Wasserausfall im Sommer war unangenehmer. Die mehrstündigen Wassersperrzeiten im Winter kann man mit rechtzeitig abgefüllten Wannen und Kanistern dagegen ertragen. „Wie nach einem verlorenen Krieg. Obwohl wir all die Jahre so hart gearbeitet haben!“ beschwert sich Theuta. Sie siebt nun Maismehl als Verdickungsmittel. Wenn überhaupt bekannt, sind zeitsparende Fertigprodukte, wie zum Beispiel Puddingpulver, erst mit der von Italien aus geleiteten EG-Hilfsaktion „Pelikan“ seit August 1991 ins Land gekommen.

Für die siebenjährige Tochter Vera wünscht Theuta sich „solch einen Apparat, den es zum Brotrösten geben soll“. Gesehen hat sie einen Toaster noch nie. Theuta führt die Appetitlosigkeit der kleinen Vera auf die wenige gemeinsame Zeit zurück. Aber für zusätzliche Einnahmen nimmt sie es in Kauf. Neben dem Schulunterricht lehrt sie die albanischen Dienstboten einer Botschaftergattin Englisch. Bezahlt wird Theuta wie die Putzfrau. Für dreieinhalb Stunden bekommt sie 100 Lek (knapp einen Dollar).

Gibt es Strom, begleitet ununterbrochen das albanische Fernsehen Küchenarbeit und Mahlzeiten. Gezeigt werden Kopien westlicher Schnulzen, besonders beliebt sind italienische Mafiathriller. Nur die Nachrichten sind albanische Eigenproduktion. Noch wie in jüngst vergangenen Zeiten schließen sie mit einer Lektion Abschreckung: Bilder frisch gefaßter Schwerverbrecher, aber auch kleiner Diebe, die nun der moralischen Verurteilung durch die Öffentlichkeit ausgesetzt werden. „Die sollte man gleich aufhängen“, vertritt Theuta gnadenlos die Einstellung vieler Albaner zu Raub und Mord. Erst vergangenen Sommer wurden in Fieri, einer südalbanischen Stadt, vier Raubmörder auf dem Marktplatz aufgehängt.

Das Anwachsen der Raub- und Überfallrate erklärt Vater Agron mit dem ökonomischen Druck. „Vielen bleibt eben keine andere Wahl. Nur die Händler und Polizisten können sich von ihrem Verdienst ernähren.“ Als besonders gefährdet gelten „Frauen und Ausländer“, und daher begleiten Agron und seine Söhne mich fast ständig. Schutz und Sicherheit von Gästen und von weiblichen Angehörigen verantworten die Männer einer Familie traditionell mit ihrer Ehre.

Die dominierende Fernsehsprache, Italienisch, wird von fast allen verstanden. Italien ist über die kürzeste Schiffsverbindung (Vlora/ Otranto) nur siebzig Kilometer weit entfernt. „Die Sprache der Liebe“, stellt Sohn Genci fest, „Deutsch dagegen ist die Sprache der Befehle.“ Er meint das durchaus freundlich. Wie alle jungen Albaner ist er auf der Suche nach Rezepten für Wohlstand. „Deutsche Disziplin und Ordnung würden das Land aus seiner Krise reißen“, glaubt er. Die meisten Albaner findet er zu passiv. „Die Ignoranten erkennt man an den langen Koteletten“, erfahre ich.

Genci selbst ist voller Tatendrang. Management- und Wirtschaftskurse, die die Scientology Church seit neuestem in Tirana anbietet, sollen dem Informatikstudenten den Weg zur ganz großen Karriere bahnen. Warnungen vor der Scientology Church weist er zurück. Weiß er doch, daß ein Studium an albanischen Instituten ihn nicht nach internationalem Standard qualifizieren kann. Für mehr als tausend Studenten stehen an seiner Fachhochschule gerade neun veraltete Computer zur Verfügung, zwei davon sind kaputt. Für ihn kaum vorstellbar, daß ein Student einen eigenen Computer besitzen könnte.

Verschiedene Kirchen und Sekten, die seit der Aufhebung des staatlich verordneten Atheismus (1967–1991) mit missionarischem Eifer in Albanien arbeiten, finden unter jungen Albanern großen Zulauf.

Genci fühlt sich in der Apostolischen Kirche ernst genommen. Religiöse Zugehörigkeit wurde in der albanischen Geschichte gemäß dem Prinzip cuius regio – cuius religio oft gewechselt. Viele nichtorthodoxe albanische Immigranten konvertieren heute nach ihrer Flucht nach Griechenland und gewinnen so konkret soziale Vorteile.

Ein religionspolitischer Stratege ist selbst der albanische Staatspräsident Berisha. Nach der anfänglich allein westlichen Orientierung, der von seiner zeitweiligen Katholizismuseuphorie in Albanien gestützt wurde, sucht er nun ökonomische Unterstützung im islamischen Lager. In der Familie Ruka ist Agron Muslim. Dennoch ist ihm wie vielen anderen die neue Orientierung seines Staatschefs nicht geheuer. Theuta ist griechisch-orthodoxen Glaubens. Unterschiedliche Konfession war kaum jemals ein Ehehindernis. Die Kinder wählen ihre Konfession nach Gusto.

Neben dem Studium sammelt Genci erste praktische „Berufserfahrungen“. Als Zwischenhändler von Kaugummi und Streichhölzern hat er sich inzwischen schon ein Mountainbike bulgarischer Produktion leisten können. Häufiger im Straßenbild zu sehen ist die chinesische Alternative, ein Damenrad nach holländischem Vorbild.

Das hätte sie besser mitnutzen können, kritisiert Theuta die prestigeträchtige Wahl ihres Sohnes. Bulgarische und chinesische Zweiräder findet man neben türkischen Sofas in einer speziellen Straße des Basars, der durch die ausländischen Waren eine Blüte wie zu alter osmanischer Zeit erlebt.

Aber auch Agron hat einen zweiten Job. Er hat begonnen, unter Bekannten Geld zu zehnprozentigen Zinsen zu verleihen. Ein einträgliches Geschäft, denn die Banken geben noch keine privaten Kredite. Nur einige Projekte amerikanischer und europäischer struktureller Wirtschaftshilfe fördern bewußt die Entstehung einer Zwischenhändlerschicht. Handel und Spekulation kannten die Einwohner Tiranas in realsozialistischer Zeit nur vom offiziell geächteten, aber doch beschränkt geduldeten Schwarzmarkt. Heute findet man Peanutbutter, deutsche Schokocreme oder die Fünfkilodosen „Bohnen in Tomatensoße“, Billigprodukte aus caritativen Hilfslieferungen, im längst legalisierten Straßenhandel wieder. Obwohl teils unter westlichem Preisniveau, gelten sie als Luxusartikel. Agron weiß, daß Albanien ein soziales Pulverfaß ist. „Viele sagen, es ging uns besser unter den Kommunisten.“

Und als dann Mitte Januar die staatlichen Preise für Grundnahrungsmittel verdoppelt wurden, erkauft sein Sohn sich für 20 Lek bakshish eine der begehrten Vermittlungen für ein Auslandsgespräch. Er hofft einen meiner Berliner Freunde zu erreichen, und es gelingt: „Brot, Öl, Kartoffeln, Reis, Zucker, Salz und Benzin, alles ist teurer. Das gibt eine Revolution. Sende Shampoo, harte Salami und lange Schuhbänder. Damit kann man hier Geld machen.“