Eine Farce und ihre Folgen

■ Die Auswirkungen der Kieler Schubladenaffäre auf die schleswig-holsteinische Landespolitik: Die CDU ist im Kommen, Grüne und Rechtsradikale auch - Karl Otto schweigt dazu

auf die schleswig-holsteinische Landespolitik:

Die CDU ist im Kommen, Grüne und

Rechtsradikale auch — Karl Otto schweigt dazu

Karl Marx bemerkte einmal in einer seiner bekanntesten Schriften, weltgeschichtliche Tatsachen und Personen würden sich sozusagen zweimal ereignen: einmal als Tragödie, einmal als Farce. Der Mann nahm's zu genau. Was er beschrieb, gilt auch für kleinere Kaliber und ist gelegentlich sogar in Randbereichen der politischen Geographie zu beobachten. Also auch in Kiel: Auf Uwe Barschel folgte Björn Engholm, auf Reiner Pfeiffer ein Herr Nilius.

Doch letztlich ist das bekannte Marx-Zitat nicht ausreichend zur Beschreibung der schleswig-holsteinischen Landespolitik. Die Farce namens „Schubladen-Affäre“ könnte sich überraschend schnell in eine Tragödie zurückverwandeln. Nicht etwa, weil Björn Engholm all seiner „Optionen“ auf Kanzlerschaft und Parteivorsitz von historischem Gewicht verlustig gehen dürfte. Auch nicht, weil die Sozialdemokratie mindestens mittelfristig von den Futternäpfen der nordelbischen Landespolitik davongejagt werden könnte. Nein, weil rechtsradikale Parteien ein bundesrepublikanisches Rekordergebnis erzielten, gäbe es in den nächsten Wochen Neuwahlen im Norden.

Neuwahlen? Noch sind sie nicht in Sicht, aber sie schimmern bereits am Horizont der schleswig-holsteinischen Medienlandschaft. Nie waren die Politikberichterstatter aus Flensburg, Lübeck und Kiel eifriger als in diesen Tagen. Derzeit sind ihnen sogar selbstrecherchierte Enthüllungen zuzutrauen.

Vor gut fünf Jahren, während des ersten Affären-Aktes, ergaben sich die mehrheitlich CDU-nahen Schreiber zähneknirschend ihrem Schicksal und berichteten artig über die von Hamburger Kollegen bereits breitgetretenen „Machenschaften“ ihres Ministerpräsidenten Uwe Barschel.

Jetzt aber sind die Karten anders gemischt. Jetzt paßt jede reißerische Schlagzeile, jeder bitterböse Kommentar voll in das politische Weltbild der einflußreichsten Redakteure Schleswig-Holsteins — und ist dabei sogar inhaltlich berechtigt. Diesmal schneiden sie genüßlich Scheibe für Scheibe von der gammeligen SPD-Salami.

Egal, was die politische Würstchenbude noch zu bieten hat, ein Gewinner des aktuellen Schlachtfestes steht jetzt schon fest: Der Oppositionsführer und CDU-Landesvorsitzende Ottfried Hennig. Was er aus eigener Kraft nie erreicht hätte, schafften Engholms Mannen. Der blasse Import, den sich die Nord-Union 1988 in höchster Not aus Bonn holte, gilt plötzlich als echter Spitzenpolitiker.

Hennig erreichte am vergangenen Wochenende bei seiner Wiederwahl zum Parteichef ein DDR- Ergebnis. Er ist ein gefragter Interviewpartner, darf sich als Erneuerer der gebeutelten nordelbischen Christenunion und glaubwürdiger Ankläger schillernder SPD-Gestalten produzieren.

Die Männer und Frauen der zweiten CDU-Reihe halten sich im Vergleich zu ihrem Chef derartig zurück, daß das schon fast seriös wirkt. Die Union steht da als eine Vereinigung durchaus langweiliger Landespolitiker. Das reicht den

1Meinungsmachern derzeit — die Schreiber des Nordens atmen schon auf, wenn einer nicht allzu treudoof um die Ecke kommt.

Die nordische Sozialdemokratie hat aktuell keine Mittel, um sich gegen das unerwartete Überholmanöver der CDU zu wehren. Zu tief sitzt der Schock, zu groß ist die alte Liebe zum Übervater der Landespartei, Günther Jansen. Der hat mit seinem Outing als Schreibtischschubladenmildtäter das Übelste angerichtet, was einer politischen Partei an ihrer Basis geschehen kann: Resignation. In den Ortsverbänden wird nur noch müde abgewinkt, wenn ein Beflissener versucht, das „Handeln“ der Parteioberen zu erklären.

Außerdem sterben derzeit die Beflissenen aus. In der Landtagsfraktion gibt es in diesen Tagen kaum noch einen, der ungebremst hinter Zögerling Engholm und Gutling Jansen steht. Auch in den SPD- Räumen des Kieler Landeshauses wird der verzweifelte Ruf nach lückenloser Aufklärung lauter. Aber einer ruft nicht mit: Fraktionsvorsitzender Gert Börnsen. Er betreibt inbrünstig das, was Sozialdemokraten mit Abstand am besten können: beleidigt sein.

Mit jedem Tag, den Björn Eng-

1holm seinen „Freund“ Jansen im Amt als Sozialminister beläßt, nähert sich die Resignation der Basis depressiven Zuständen. Mit einer so verfaßten Partei läßt sich nicht einmal zwischen Lauenburg und Niebüll mehr Staat machen.

Mit der halbseidenen Kubicki- FDP natürlich auch nicht. Trotzdem, oder gerade deshalb, rackern die Nord-Liberalen angestrengt und produzieren zu jeder neuen Salami- Scheibe mindestens zwei Presseerklärungen. Eine von irgendeinem Kubicki-Stellvertreter, weil der Vorsitzende meist nicht zugegen ist, wenn etwas passiert. Kurz darauf dann eine vom Meister selbst. Tenor: Empörung, Unverständnis, Staunen.

Der „Unbestechliche“ von einst, der einzige Abgeordnete des dänischorientierten „Südschleswigschen Wählerverbandes“ (SSW), Karl Otto Meyer, hält sich diesmal voll aus der Sache raus. Er hat mit den Feierlichkeiten zu seinem 65sten Geburtstag ausreichend zu tun und widmet sich lieber dem Aquavit und der Schafzucht. Meyer braucht nicht den empörten Saubermann zu spielen — er ist sauber. Und in der derzeitigen Gemengelage braucht er auch nicht um Wählerstimmen zu buhlen,

1denn wann war den Menschen dänischer zumute als beim heutigen Zustand der deutschen Politiker?

Auch die Grünen halten sich weitgehend bedeckt, fast so wie zu Zeiten der Barschel/Pfeiffer-Affäre. Damals aber war ihr Schweigen Ausdruck innerer Zerrissenheit und landespolitischer Desorientierung. Sie befanden sich 1987/88 auf dem Höhepunkt ihrer selbstzerstörerischen Strömungskämpfe. Inzwischen haben sie weniger Mitglieder, vermitteln eine Aura der Langeweile von CDU-Format und liegen damit voll im Trend.

Wer gar nichts sagt, kann keine Fehler machen. Weshalb sollen die Nord-Grünen eine einzige Fehlinterpretation im Gewusel der Enthüllungen und Vermutungen riskieren? Sie haben doch jetzt schon gewonnen. Für viele tausend ehemaliger „fortschrittlich-humanistisch-ökologisch-moralisch-sensibler“ SPD-Wähler gibt es derzeit nur eine Alternative: Die Grünen. Die dürfen schon jetzt mit einem halben Dutzend Mandaten rechnen. Björn Engholm hat sich um die Grünen verdient gemacht!

Und auch — doch das wird jetzt fatal — um die kommenden Erfolge rechtsradikaler Parteien. Diese Gruppierungen äußern sich über-

1haupt nicht zur Schubladenfarce und ihren Folgen — und wenn, dann werden ihre Presseerklärungen nicht gedruckt. Müssen sie auch nicht. Was kommen wird, ist ein Selbstgänger — aus doppeltem Grund.

Einmal steigert Engholm durch seinen nichtssagenden Verbalaktivismus die Politikverdrossenheit ins Erhebliche: Es wird ununterbrochen „gestatementet“, aber nichts geschieht — nicht einmal ein abgedrehter Ex-Pressesprecher wie Nilius kann entlassen werden, von den wirklichen Problemen nationaler und regionaler Politik ganz zu schweigen. Der daraus resultierende Wahlverzicht stärkt automatisch die kleinen Parteien.

Rechtsradikale Gruppierungen werden im Norden — wenn es denn so weitergeht — nicht nur rechnerisch zulegen, es ist auch mit absoluten Zuwächsen zu rechnen. Zu arg treibt es die Regierungsspitze. Die Antwort rechter Protestwähler ist zu ahnen: „Den Clowns da oben verpassen wir einen Denkzettel.“ Die nicht auszuschließende Folge: Noch mehr Dösbaddel im Kieler Landeshaus. Das wäre gar nicht schön. Aber jeder Landtag bekommt die Fraktionen, die er verdient. Jürgen Oetting