Dem kurdischen Volk Gehör verschafft

■ Neun Jahre Guerillakrieg haben Türkisch-Kurdistan entscheidend verändert/ Bislang hat Ankara keine Alternative zur „militärischen Lösung“ angeboten

Berlin (taz) – „Wir haben den bewaffneten Kampf nicht mit der Maxime begonnen, stets nur Gewalt anzuwenden. Als wir anfingen, ging es uns darum, die Existenz des kurdischen Volkes unter Beweis zu stellen. Wir wollten die Diskussion über die nationalen Rechte und die Freiheit unseres Volkes beginnen. Daraufhin wurden wir vom Staat mit Waffengewalt angegriffen. Wir haben den bewaffneten Kampf niemals zum Fetisch erhoben oder für unverzichtbar erklärt. Wenn der türkische Staat die Meinungs- und Organisationsfreiheit garantiert und die Entstehung einer politisch arbeitenden Volksbewegung zugelassen hätte, wäre die Gewalt niemals in den Vordergrund getreten.“ Die Existenz des kurdischen Volkes, die Abdullah Öcalan in einem Interview mit der taz im Herbst 1990 beschwor, wird heute auch in der Türkei von niemandem mehr bezweifelt. Die kemalistische Politik der reinen Ignoranz gegenüber ethnischen Minderheiten ist seit gut einem Jahr passé. Seitdem dürfen auch türkische Zeitungen von Kurden schreiben. Der türkische Staat hat sogar die Existenz einer kurdischen Sprache anerkannt – allerdings nur für den Hausgebrauch, in Schule und Amt bleibt Kurdisch verpönt.

Bevölkerung als Geisel

Auf den ersten Blick eine magere Bilanz für neun Jahre brutalen Guerillakriegs, in dem die türkische Armee die kurdische Zivilbevölkerung ganzer Städte als Geiseln nahm – aber auch die PKK mit vermeintlichen oder tatsächlichen Kollaborateuren nicht zimperlich umging. Für den Beginn dieser bislang letzten Runde im Krieg um Kurdistan (große Kurdenaufstände gab es bereits in den 20er und 30er Jahren) gibt es ein exaktes Datum: den 15. August 1984. An diesem Tag griffen Guerillaverbände der PKK zwei türkische Polizeistationen in Eruh und Semdenli an und hißten an beiden Orten – in der Nähe der syrischen und der iranischen Grenze – die kurdische Fahne. Vier Jahre Vorbereitung hatte die PKK für diesen Tag gebraucht. Nach dem Putsch im September 1980 war Abdullah Öcalan mit einer Handvoll seiner engsten Anhänger nach Syrien geflüchtet. Hauptsächlich mit finanzieller Unterstützung von Kurden im europäischen Exil stellte er eine Truppe auf, die im libanesischen Bekaa trainiert wurde und dann über Kurdistan im Nordirak innerhalb der Türkei zum Einsatz kam. Nach den ersten Überraschungserfolgen kam für die PKK die härteste Zeit: Die türkische Armee formierte sich, stellte Spezialverbände zur Jagd auf die Peschmerga auf und baute ein dichtes Netz von Militärstationen in den kurdischen Provinzen. Noch fehlte der PKK weitgehend die Unterstützung aus der kurdischen Bevölkerung.

In dieser Phase zeigte „Apo“ (der Onkel), wie Abdullah Öcalan in Kurdistan seit Ende der 70er Jahre genannt wird, eine beispiellose Härte, die ihm den Ruf eines kurdischen Stalinisten einbrachte. Innerparteiliche Kritiker wurden ausgeschaltet und – wenn aus der Sicht Apos notwendig – auch liquidiert. Das galt selbst für Leute, die sich nach Europa abgesetzt hatten, weil sie hier die Sympathisantenszene irritierten und damit die materielle Basis des Guerillakrieges gefährdeten. Am härtesten wurde aber um die Köpfe und Hütten der kurdischen Dörfer gekämpft. Die türkische Armee war 1985 dazu übergegangen, sogenannte Dorfmilizen zu bilden, die, notdürftig bewaffnet, verhindern sollten, daß PKK-Kämpfer in den Dörfern Unterschlupf fanden.

Zur Entscheidung gezwungen

Damit gerieten die Dörfer zwischen die Fronten. Die Dorfmilizen wurden häufig vom Militär zu ihrem Dienst gezwungen – andererseits überfiel die PKK Dörfer, in denen es eine Miliz gab. Dabei ermordeten sie oftmals nicht nur die „Dorfschützer“, sondern auch Frauen und Kinder, um andere Kollaborateure abzuschrecken. So wurde die kurdische Bevölkerung gezwungen, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. In diesem Kampf um die Köpfe siegte die PKK. Immer wieder entpuppte sich die türkische Armee in Kurdistan als reines Besatzungsregime. Je länger die PKK durchhielt, um so mehr Vertrauen konnte sie gewinnen.

Der türkische Staat reagierte ausschließlich repressiv. Nachdem das Konzept der Dorfmiliz versagte, ging man dazu über, Dörfer zwangsweise zu evakuieren und die Bevölkerung in den Westen zu vertreiben. Ankara begann, auch die Luftwaffe einzusetzen und Dörfer und Peschmerga-Stellungen im eigenen Land zu bombardieren. Den Höhepunkt erreichte dieser Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, als die Armee die Städte Sirnak und Cukurcas angriff und die gesamte Bevölkerung vertrieben wurde – über 20.000 Menschen mußten fliehen.

Bis jetzt hat die türkische Regierung keine Alternative zur „militärischen Lösung“ der Kurdenfrage angeboten. Hoffnungen, die der Regierungswechsel im Herbst 91 geweckt hatte, wurden von Premier Demirel blutig enttäuscht. Auf indirekte Angebote zu Gesprächen, die Öcalan damals bereits über die Presse lancieren ließ, erfolgte in Ankara keine Reaktion.

Daß Öcalan trotzdem noch einmal offiziell einen Waffenstillstand anbietet, hat vor allem mit den Veränderungen in Syrien und im Nordirak zu tun: Die Syrer sind auf das von der Türkei gestaute Euphrat-Wasser angewiesen, und die Kurden im Nordirak brauchen die Nachschublinien über die Türkei, damit ihre Autonome Region überleben kann. Jürgen Gottschlich