„Im Westen alles nach Plan“

■ Preisgekrönter Kino-Dokumentarfilm zur Armut in Deutschland im Cinema / Gespräch mit dem Filmemacher Hans Peter Clahsen

Noch vor der Vereinigung drehten Hans Peter Clahsen und Michael F. Huse (nach einem Buch von Werner Morgenrath) den Dokumentarfilm „Im Westen alles nach Plan“ — Geschichten der Armut in der reichen Bundesrepublik, „quer durch die Randzone des westdeutschen Konsumzirkus“ (vgl. nebenstehenden Kasten).

Am Dienstag wurde der Film in Anwesenheit eines seiner Regisseure zum ersten Mal öffentlich in Bremen gezeigt. Beim SPD-Bundesparteitag war er schon einmal in der Hansestadt und damals in geschlossener Vorstellung den SozialdemokratInnen angeboten worden. Wahrgenommen hatten den Kinoabend damals aber nur rund 40 GenossInnen. Dabei müßte der Film eigentlich zur Pflicht für PolitikerInnen und Verwaltungsmenschen werden: zeigt er doch Bilder von Menschen, die in der Öffentlichkeit sonst keine Lobby haben, an deren Lebensgrundlage Politik aberzunehmend den Rotstift ansetzt.

Im Anschluß an die Filmvorführung im Cinema diskutierten Bremer Sozialpolitiker und die Verfasser des Bremer Armutsberichts über den Film und sein Anliegen (vgl. Bericht auf dieser Seite). Die taz sprach aus diesem Anlaß mit Regisseur Hans Peter Clahsen.

taz: Seit wann tingelt der Film durch die Republik und wo wird er gezeigt?

Hans Peter Clahsen: Er tingelt seit zwei Jahren quer durch die ganze Republik und wir wollen ihn zunächst in den ganz normalen Kinos zeigen, um das Zufallspublikum über normale Plakatwerbung zu bekommen. Filmforen und Volkshochschulen versuchen wir vorerst noch zu umgehen. Denn der Film will keine abschließenden Antworten geben, sondern er will, daß die Leute anschließend in den Kneipen auch über ihn streiten können — er will Luft lassen für Vorurteile, Klischees und die verschiedensten Ansätze zur Diskussion. Die Leute sollen sich über die Frau streiten, die 1.700 Mark für ihre nicht zurückgegebenen Videofilme zahlen muß. Vielleicht kommen sie so zu dem Punkt, daß sie selbst jeden Tag mindestens ebensoviel unvernünftige Handlungen begehen wie die Leute in diesem Film.

In der Diskussion vorhin ging es auch um Definitionen von Armut und ihre Erscheinungsformen. Dabei wurde thematisiert, warum ausgerechnet bei den Sozialhilfeempfängern und Einkommensschwachen über „unsinnige“ Handlungen geredet wird, während Mittel- und gehobene Schichten soviel Unsinn machen können wie sie wollen.

Genau darum geht es. Wir Autoren dieses Films sind überzeugt: Wir brauchen eine Wertediskussion, ganz offen und ganz pluralistisch. Darüber, was diese Gesellschaft finanzieren will. Denn wir finanzieren ja auch die Unsinnsausgaben der anderen zwei Drittel. Leider gibt es solche Berechnungen nicht, wieviel die Gesellschaft investiert, damit ein einzelner zum Beispiel seinen Mercedes fahren kann - von den Straßen bis zur Umweltverschmutzung usw. Da fehlt mir auch der Humor der Statistiker, um auf ganz andere Fragestellungen zu kommen.

Zum Stichwort Humor: Ich finde, daß der Film in seinem ersten Drittel sehr humorig ist, in den Kommentaren der letzten viertel Stunde aber kaum noch zu ertragen. Ist das gewollt?

Dies ist bewußte Dramaturgie. Unser zweiter Film wird eine ganz andere bekommen. Aber weil dies der einzige größere Film zu dieser Thematik ist und auch der einzige Dokumentarfilm, der derart versucht, in die Kinos zu gehen — mit Anlehnung an die Spielfilmästhetik, deshalb wollten wir davon überzeugen: Armut und den Menschen in ihrer Lebensweise kann man auch mit Humor begegnen. Trotzdem müssen wir auch klarmachen: Die Lebensverhältnisse sind tragisch, auch traurig. Und am Ende müssen wir aber auch verlangen, sich über das Kinovergnügen hinaus mit Systemfragen auseinanderzusetzen. Dies konnten wir nur über den Kommentar leisten.

Denn wir können nicht zulassen, daß die Zuschauer das Thema an sich heranlassen, eine Nähe zu den Menschen aufbauen — aber dann beim Thema Grundsicherung wieder aus der Diskussion aussteigen. Zum Schluß müssen die Leute auch über die Frage von 1.200 oder 1.500 Mark Grundsicherung lachen können, sonst wäre der Humor vom Anfang unsinnig.

Wie erleben Sie die Diskussionen über den Film?

Es herrscht eine unglaubliche Angst, das Geld unkontrolliert in die Gesellschaft zu geben. Doch die Summe, die dabei herauskommen würde, steht in keiner Relation zu den 130 Milliarden Mark Mißbrauch allein im Steuerrecht, und wenn man dann noch den Mißbrauch der Managementwirtschaft dazurechnen würde! Die Diskussionen in den Kinos sind auch immer ganz toll, besonders wenn viele Betroffene da sind. Sie sind aber auch katastrophal spröde — wenn die zuständigen Verwalter untereinander um ihre Pfründe kämpfen, wer denn nun mehr Geld bekommt, um es für die Armen zu verwalten.

Spannend sind die Diskussionen in den Kneipen: ob man der Frau für ihre Videokassetten auf die Finger hauen müßte oder nicht, sollten sie (die Sozialhilfeempfänger, Anm. d. Red) Filterzigaretten rauchen oder nicht. Der Film kann eine Menge Vorurteile rauskitzeln. Er provoziert auch in die Sozialverbände hinein: Da haben einige durchaus gesagt, 'der Film gereicht uns nicht zur Ehre'. Der Film sei zu polemisch, zu einseitig. Oder auch zu gefährlich, weil er Vorurteile schüre. Armut progressiv zu vertreten ist nicht so einfach.

Gehen Sie mit diesem Film in die neuen Bundesländer?

Natürlich, zur Zeit vor allem an der Ostseeküste. Wir bekommen dort sehr volle Kinos. Und wir merken: Dort braucht der Film keine Aktualisierung. Weil die Menschen dort genau wissen, daß sie das alles abbekommen, was wir als Beschreibung der Zustände hier aufgenommen haben. Die verstehen den Film noch intensiver, haben weit weniger Berührungsängste. Und man ist dort sehr viel schneller bereit, über das individuelle Schicksal hinaus über die Systematik zu diskutieren. Das empfinde ich als sehr produktiv; und das vermisse ich oft bei den Diskussionen hier. Interview: Birgitt Rambalski