Der Boden ist rechtlich ungeschützt

Serie: Die Last mit den Altlasten (zweite Folge)/ Nach Skandalfällen Pintsch und Kalisch verlangt Enquétekommission neue Vorsorgepolitik/ Bodenschutzgesetz liegt bis heute nicht vor/ Finanzierungssystem für Sanierung fehlt noch  ■ Von Thomas Knauf

Am 15. Oktober 1975 erhalten die Mitarbeiter der Wasserbehörde ein äußerst aufschlußreiches Schreiben aus interessierten Verbandskreisen. Hingewiesen wird auf die unternehmerischen Aktivitäten der neuen Eigentümer der Pintsch Oel Berlin GmbH, einem Unternehmen, das rund 90 Prozent des Berliner Altöls entsorgt: „Auf dem Gelände der Pintsch Oel GmbH hat sich jetzt die Firma Pintsch-Chemie niedergelassen. Nach meinen Informationen unterhält die genannte Firma dort eine größere Tankanlage für Salzsäure... Wie ich höre, soll diese Tankanlage jedoch nicht den gesetzlichen Vorschriften entsprechen; vor allem sollen Auffangwannen und eine Neutralisierungsanlage fehlen, so daß bei einer Leckage o.ä. das Grundwasser gefährdet wäre... Ich darf um vertrauliche Behandlung bitten.“

Tatsächlich ergibt ein auf die Anzeige hin veranlaßtes TÜV-Gutachten „für das Grundwasser unmittelbar Verschmutzungsgefahr“. Bald darauf erhält das bezirkliche Gesundheitsamt Hinweise auf eine extreme Verunreinigung des Grundwassers, als es die Eigenwasserversorgungsanlagen bei Pintsch besichtigt. Doch selbst dann glaubt die Wasserbehörde, auf Sofortmaßnahmen verzichten zu können. Die Altölbude kann die Stillegung der defekten und ungenehmigten Tanks über fünf Jahre hinausschieben. Erst nach einem Brand, der Ende 1981 wesentliche Teile der Altölaufbereitungsanlage zerstört und schließlich zur Betriebsaufgabe führt, legt die Firma einen Abrißplan für das schrottreife Tanklager vor. Nachdem ein Gutachten der Wasserbehörde eine umfassende Bodenverunreinigung durch chlorierte Kohlenwasserstoffe belegt, meldet Pintsch 1984 Konkurs an. Weil die Behörde es versäumte, rechtzeitig beweiskräftige Proben zu nehmen, ist allerdings nicht mehr zu klären, wann der Boden verschmutzt wurde. Deshalb muß der Senat, sprich der Berliner Steuerzahler, die immensen Sanierungskosten von inzwischen über 105 Millionen Mark tragen.

Skandalöse Kontrollbehörden

Aufgrund von skandalösen Vollzugsdefiziten der zuständigen Genehmigungs- und Kontrollbehörde explodiert im Westberlin der frühen achtziger Jahre noch eine zweite Altlasten-Bombe. Durch den ungenehmigten Betrieb der ehemaligen „Chemiefabrik“ Dr. Kalisch/Kolhoff sind auf einem Grundstück an der Haynauer Straße in Lankwitz Boden und Grundwasser ähnlich stark wie bei Pintsch vergiftet. Wiederum muß der Steuerzahler die Sanierung – diesmal sind bei Beginn der Arbeiten Kosten von rund 68 Millionen DM veranschlagt – zahlen, da nicht mehr nachvollziehbar ist, wer welchen Schaden verursacht hat, und die beiden letzten Betreiber Kalisch und Kolhoff vermögenslos sind.

Mit am energischsten verlangt Ende 1984 der damalige Umweltexperte der oppositionellen Sozialdemokraten, Walter Momper, Konsequenzen: Eine verbesserte Koordination der Behörden untereinander, mehr Personal, eine entschiedenere Anwendung von Gewerbe- und Berufsuntersagungen können nach Meinung des Abgeordneten ähnliche Skandale in Zukunft verhindern.

In diese Richtung gehen schließlich auch eine ganze Reihe von Handlungsempfehlungen, die eine auf Antrag der SPD-Fraktion eingesetzte Enquétekommission „Bodenverschmutzung, Bodennutzung und Bodenschutz“ 1986 und 1988 in zwei Berichten vorlegt. Grundlage der Empfehlungen ist nicht zuletzt eine in Auftrag gegebene „Schwachstellenanalyse“ der Fälle Pintsch und Kalisch. Überwiegend seien nicht Eigeninitiativen von Behörden, sondern vielmehr „Anstöße von außen“ in Form von Hinweisen aus der Öffentlichkeit, Störfällen und „Umweltunfällen der wichtigste Auslöser für behördliches Handeln gewesen, heißt es darin.

Laut der Analyse des Instituts für Stadtforschung und Strukturpolitik (IfS) kontrollierten Behörden beide Firmen jeweils nur ein einziges Mal und stießen dabei auf Mißstände: Im Falle Pintsch besichtigte das Neuköllner Gesundheitsamt einmal die betriebliche Eigenwasserversorgungsanlagen; bei Kalisch fand einmal und nie wieder eine Brandsicherheitsschau statt. Fazit der IfS-Gutachter: In beiden Fällen sind schwerwiegende Vollzugs- und Kontrolldefizite sowie Defizite in der Kooperation der verschiedenen Behörden untereinander zu konstatieren.

Ruf nach Bodenschutzgesetz

Die Enquétekommission kritisierte die unklaren Zuständigkeiten im Altlastenbereich und verlangte eine systematische Bestandsaufnahme der Altlastenstandorte statt einer Erfassung nach dem „Zufallsprinzip“. Daneben mahnte das Gremium dringend ein Bodenschutzgesetz an, das den Aspekt einer vorsorgenden Bodenpolitik mindestens in gleicher Weise wie die Abwehr von Umweltgefahren berücksichtigt und bessere Rechtsgrundlagen für behördliches Handeln schafft.

Gleichwohl gibt es das Gesetz bis heute nicht. Erst diesen Monat legte der Umweltsenator einen Entwurf, der schon vor zwei Jahren fertiggestellt war, im Senat vor. Wie gemeldet, möchte Hassemer den Entwurf für ein Bodenschutzgesetz erst mit der Wirtschaft erörtern, bevor ihn der Senat beschließt und zur weiteren Beratung dem Parlament zuleitet.

Die wichtigsten Punkte des neuen Gesetzes:

1.Einrichtung einer Bodenschutzbehörde, die

–Verfahrens- und Bewertungsgrundlagen für stoffliche Bodenverunreinigungen erarbeitet,

–Bodensanierungen zur Abwehr von Gesundheitsgefahren, zum Schutz vor Grundwasserschäden und zur Abwehr von Grundwassergefährdungen durchführt und

–ein zentrales Bodenzustands- und Bodenbelastungskataster führen soll.

2.Einführung einer Anzeigenpflicht, die Eigentümer verpflichtet, Bodenverunreinigungen unverzüglich der zuständigen Behörde oder der Polizei anzuzeigen.

3.Einführung einer Untersuchungspflicht, die die zuständigen Behörden zwingt, Bodenverunreinigungen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu erfassen und zu erforschen.

4.Einführung eines Auskunfts- und Betretungsrechts, das die Einsicht in geschäftliche Unterlagen und Akten gestattet und im Verdachtsfalle das Betreten eines Grundstücks auch gegen den Willen des Eigentümers zum Zwecke der Entnahme von Luft-, Wasser- und Bodenproben sowie die Errichtung von Meßstellen zuläßt.

5.Ermächtigung der zuständigen Behörde zu Maßnahmen zum Schutz und zur Sanierung des Bodens unter anderem dadurch, daß

–Untersuchungsmaßnahmen angeordnet,

–die Beseitigung oder Verminderung von Bodenverunreinigungen angeordnet,

–bestimmte Arten der Bodennutzung verboten und

–Bodenbelastungsgebiete festgesetzt werden können sowie

–die Erstellung eines Sanierungsplanes verlangt werden kann.

6. Einführung eines Bodenzustands- und Bodenbelastungskatasters.

Hassemer hatte den Gesetzentwurf nicht ohne Grund solange in der Schublade gelassen. Sein Parteifreund, der christdemokratische Innensenator Heckelmann, war nicht bereit, für die neue Bodenbehörde, ohne die das Paragraphenwerk nicht umgesetzt werden kann, Personalstellen zu spendieren. Auch jetzt denkt Heckelmann nicht daran, mehr Personal für den Bodenschutz zu bewilligen, wie Umweltstaatssekretär Lutz Wicke kleinlaut vor dem Umweltausschuß einräumte. Damit, so der Grüne Hartwig Berger, sei der vorliegende Entwurf des Bodenschutzgesetzes „kaum mehr als ein Windei, eine Fehlgeburt, der Berlins Stadtregierung die Beine zum Laufen vorenthält“. Überdies fehlt in dem Entwurf fast völlig der Aspekt eines vorsorgenden Bodenschutzes, kritisierte die Fraktion Bündnis 90/Grüne.

Gestützt auf ein Gutachten des ehemaligen Umweltstaatssekretärs und jetzigen Rechtsanwaltes Klaus-Martin Groth verlangen die Grünen vom Senat, neben dem Bodenschutzgesetz auch endlich eine Gesamtberliner Prioritätenliste zur Altlastensanierung vorzulegen. In seinem von Insiderkenntnis geprägten Gutachten beklagt Groth falsche Weichenstellungen beim Altlasten-Kehraus, die durch politische Vorgaben korrigiert werden müßten: „Ohne weitere Diskussion ist bisher geplant, die für das ehemalige Westberlin geltenden Maßstäbe auch nach Ostberlin zu übertragen.“ Der Anwalt: „Das bedeutet, daß die Priorität bei den großen Vorhaben und bei der Abwendung von Grundwassergefahren liegen wird.“ Das ist der Problemsituation im ehemaligen Ostberlin jedoch möglicherweise nicht angemessen. Die Industriepolitik der ehemaligen DDR hat zu einer großen Zahl von kleinteiligen Verunreinigungen auch und gerade der oberen Bodenschichten geführt, bei denen direkte Gesundheitsgefährdung für die Bevölkerung nicht ausgeschlossen werden können.“ Darüber hinaus, so Groth, müsse der Gesichtspunkt des Flächenrecyclings für Gesamtberlin eine noch wesentlich größere Rolle spielen als im ehemaligen Westberlin, weil jetzt ein Abwandern der Industrieproduktion aus der Stadt in das angrenzende Umland auf die „grüne Wiese“ drohe.

Wer soll das bezahlen?

Auf ungefähr vier bis fünf Milliarden Mark schätzt der Umweltsenator die Kosten einer flächendeckenden Sanierung der Altlasten im Berliner Boden. Klar ist, daß diese Milliarden nur durch ein ertragreiches neues Finanzierungssystem aufgebracht werden können. Indes ist ein solches System nicht in Sicht. Wenn auf Diskussionsrunden und in Talk-Shows das unerschöpfliche Geldthema angesprochen ist, verweist Umweltstaatssekretär Wicke deshalb gern auf das Beispiel der erzkapitalistischen USA, Kanadas, Japans und der Niederlande, wo es in den verschiedensten Varianten einen von den Verursachern gespeisten Altlastenfonds gibt. Indem beispielsweise die Amerikaner von der Industrie konsequent eine Abgabe auf chemische Grundstoffe erheben würden, hätten sie ein „Altlasten-Superpfand“, schwärmt Wicke. Der mit ursprünglich rund 4,2 Milliarden Dollar gespeiste Grundfonds sei inzwischen sogar aufgestockt worden.

In Deutschland war eine derartige Altlastenabgabe, von der auch Berlin profitierte, bisher politisch nicht durchzusetzen. Die betroffenen Unternehmerverbände als auch der Bundeswirtschaftsminister haben heftig gegen den Sonderobulus protestiert. Auch aus der von Bundesumweltminister Töpfer favorisierten Abfallabgabe, deren Aufkommen zu 40 Prozent in den neuen Ländern zur Altlastensanierung eingesetzt werden sollte, scheint wegen verfassungsrechtlicher Bedenken zumindest vorerst nichts zu werden. So muß Berlin bei den Altlasten auf eigene Finanzierungsquellen zurückgreifen. Da sieht es mager aus.

Eine beschlossene Sonderabfallabgabe wird nach den Worten Wickes nur einen Betrag zwischen fünf und zehn Millionen DM pro Jahr erbringen. Diese Summe solle auch nicht primär für die Altlasten- Remedur aufgebracht werden, sondern primär dafür, daß kleine und mittlere Unternehmen Hilfestellung beim Minimieren der Abfälle bekommen. Auf der Einnahmenseite bietet sonst der sogenannte Wassergroschen, den jeder Grundwasserverbraucher zahlen muß, einen geringen Kostenausgleich.

Alt-Altlasten vom letzten Jahrhundert

Individuelle Verursacher sind bei den meisten Verdachtsflächen kaum in Anspruch zu nehmen, so auch ein für die Enquétekommission gefertigtes Finanzierungsgutachten. Ursächlich sei der hohe Anteil sogenannter „Alt-Altlasten“, also solcher sanierungsbedürftiger Bodenverunreinigungen, deren Entstehung zum Teil bis in das letzte Jahrhundert zurückreicht. Unterdessen prüft die Umweltverwaltung die Effekte einer Flächenversiegelungsabgabe als denkbare Finanzierungsquelle für den Bodenschutz.

Dennoch scheint wenigstens die Sanierung der Ost-Altlasten zum Teil durch Bundesmittel gesichert. Der Bund stimmte im letzten Herbst einer Regelung zu, nach der Erwerber eines Treuhand-Unternehmens von der Altlastenbeseitigung bis auf einen zehnprozentigen Eigenanteil freigestellt sind. Die Treuhand beteiligte sich zu 60 Prozent an den verbleibenden Sanierungskosten, das Land Berlin mit 40 Prozent. Von der eingeplanten Bundeshilfe von jährlich bis zu einer Milliarde DM für die neuen Länder im Zeitraum von zehn Jahren sollen auf Berlin pro Jahr insgesamt 145 Millionen entfallen.

Der Senat drängt den Bundesfinanzminister noch, er möge die zwei Industriekomplexe Johannisthal/Adlershof und Schöneweide als zu sanierende „Großprojekte“ einstufen. Dann würde sich der Bund sogar mit 75 Prozent an den Kosten der Altlastensanierung beteiligen. Freilich hält Wicke Freistellungen in Berlin im Regelfall für gar nicht erforderlich. Da die Ost-Grundstücke inzwischen sehr viel wert seien, wäre es besser, wenn die Treuhand Bodenpreisabschläge beim Verkauf mache.

Es ist zu vermuten, daß die Investoren bei diesem Verfahrensweg auch weniger bürokratischen Frust erleiden als jetzt mit den Freistellungsanträgen. Mittlerweile stauen sich in der Umweltverwaltung rund 3.300 Anträge von Investoren, die laut der Verwaltung in der vorliegenden Form nicht beschieden werden können, weil konkrete Angaben über die Schadstoffbelastung der Grundstücke fehlen. Bis zum Sommer wolle man gemeinsam mit den Antragstellern die fehlenden Angaben ergänzen, verspricht Referatsleiter Joachim Strobel.

Fortsetzung am nächsten Montag