Auf der Suche nach einem Neuanfang

Frust und Ratlosigkeit fast ein Jahr nach der Waffenstillstandserklärung der RAF/ Anwälte suchen nach Wegen, die Freilassung der RAF-Gefangenen wieder in Gang zu bringen  ■ Aus Mainz Gerd Rosenkranz

So sehr sich Gerd Klusmeyer auch müht, es hilft nichts. Man sei „nicht verbittert“, beteuert der Rechtsanwalt aus Hannover, denn man habe sich über das, was unter dem Namen „Kinkel-Initiative“ Anfang 1992 in die Öffentlichkeit lanciert worden sei, nie Illusionen gemacht. Doch die etwa 120 Zuhörer und Zuhörerinnen, die am Samstagnachmittag der Einladung der Anwälte der RAF-Gefangenen in die ESG der Universität Mainz folgten, sind verbittert. Die Stimmung ist gedrückt, die Ratlosigkeit mit Händen zu greifen.

Der frühere Bundesjustizminister hatte seinerzeit die Freilassung einiger der am längsten inhaftierten Gefangenen in Aussicht gestellt. Bald darauf gab die Politik die mühselige Prozedur stillschweigend an die Justiz zurück, in deren Mühlen die Initiative inzwischen vollständig versandete. Vorläufiger Höhepunkt der Entwicklung: Kürzlich lehnten die Oberlandesgerichte in Düsseldorf und Hamburg die „vorzeitige“ Entlassung der Gefangenen Karl-Heinz Dellwo, Hanna Krabbe, Lutz Taufer und Christine Kuby, seit fast 18 beziehungsweise 15 Jahren in Haft, ab. Eine entsprechende Entscheidung über Irmgard Möller, der mit bald 21 Jahren am längsten in deutschen Gefängnissen einsitzenden Frau, steht noch aus.

Dem heutigen Bundesaußenminister, glaubt Klusmeyer, sei es mit seiner Initiative darum gegangen, „in der Frage der Haftbedingungen der Gefangenen, Ruhe einkehren zu lassen“. Genau so sei es „dann leider gekommen“, nachdem die RAF-Aktivisten im April 1992 ihren vorläufigen Abschied vom bewaffneten Kampf erklärt und die Gefangenen diesem Schritt zugestimmt hatten. In der linken Szene, ergänzt Klusmeyers Wiesbadener Kollege Andreas Groß, hätten sich viele der Illusion hingegeben, die Freilassungsprozedur werde nun in einer Art Selbstlauf zwischen Anwälten, Gefangenen und staatlichen Behörden ausgedealt. Die ganze Arbeit hänge seither allein „an den Angehörigen der Gefangenen und drei handvoll Anwälten“.

Dabei gab es in Mainz niemanden, der angesichts der jetzigen Situation die April-Erklärung der RAF und der Gefangenen als historische Zäsur in Frage stellen oder gar zurücknehmen mochte. Als Hauptproblem und tiefere Ursache für den gegenwärtigen Stillstand machte Brigitte Mohnhaupt, seit 1982 inhaftiertes früheres RAF-Mitglied, kürzlich in einem Schreiben die „Verknüpfung“ der Waffenstillstandserklärung mit der Freiheit der Gefangenen aus. Sie habe sich „auf die politische Durchschlagskraft des Schritts der RAF genauso wie auf die Anstrengung, endlich einen Einschnitt in der Staatspolitik gegen die Gefangenen zu erkämpfen“ negativ ausgewirkt. Doch die Verknüpfung zu trennen, wo „natürlich alles zusammenhängt“ (Mohnhaupt) ist leichter gesagt als getan. Gabriele Rollnik, im vergangenen September nach 15 Jahren entlassene Ex- Gefangene und Gisela Dutzi, seit zwei Jahren wieder draußen, versuchten es. Die RAF habe im April 1992 keineswegs auf die Kinkel- Initiative reagiert, sondern auf die veränderte „weltpolitische Situation“, versicherte Rollnik. Seit sich der politische Kontext mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers radikal verändert habe, sei die „Neubestimmung“ überfällig gewesen, allerdings ohne daß bisher jemand „neue Strategien parat“ habe. Sicher sei nur, daß „der Antagonismus zum Staat“ fortbestehe. Doch dann war der Bogen zur Situation der Gefangenen gleich wieder gespannt: „In eine solche Zäsur kann die Freiheit der politischen Gefangenen eingebettet werden“. Tatsächlich hätten jedoch im staatlichen Machtapparat die „alten Reaktionsmuster“ überlebt. Nun komme es für „die ganze Linke“ darauf an, „einen neuen Anfang zu finden, um die Blockade durchbrechen zu können“. Rollnik gestand ein, daß die Frustrationen des vergangenen Jahres zu „Widersprüchen unter den Gefangenen“ geführt hätten. Der Versuch Kinkels, die Inhaftierten zu spalten, indem manchen die Freiheit in Aussicht gestellt worden sei, anderen aber nicht, habe dennoch keinen Erfolg gezeigt. Der Streit unter den Inhaftierten reduziere sich auf „produktive Widersprüche“ über den Weg zur Freiheit für alle politischen Gefangenen, nicht auf das Ziel an sich.

Den Gerichten warfen die Anwälte vor, weiter auf die Zerstörung der politischen Identität der Gefangenen zu setzen. So bestehe das OLG Hamburg bei Christine Kuby auf einer psychiatrischen Untersuchung, weil die Gefangene selbst angegeben habe, sie fühle sich durch ihre isolierenden Haftbedingungen psychisch beeinflußt. Johannes Sanden, Anwalt der Stockholm-Attentäterin Hanna Krabbe, berichtete, das OLG Düsseldorf habe seiner Mandantin und den „Stockholmern“ Dellwo und Taufer „von der Norm abweichende Charakterzüge“ zugeschrieben, die es fraglich erscheinen ließen, ob sie zu den „Strategien der Anpassung“ finden würden, die ihnen eine zukünftige Daseinsbewältigung ermöglichen. So werde die „Politik der Gefangenen zu einer Frage psychiatrischer Persönlichkeitsdefekte“, resümierte Sanden. Klusmeyer, der die Beschlüsse der OLGs in Hamburg und Düsseldorf „die neuesten Folterbeschlüsse der deutschen Justiz“ nannte, erläuterte, wie sich die Anwälte eine Freilassung aller Gefangenen in überschaubaren Zeiträumen vorstellen können.

Dazu sei es notwendig, den Gedanken der Wiedergutmachung, der im Strafgesetzbuch mit der Möglichkeit der „Mehrfachanrechnung“ im Ausland erlittener, besonders schwerer Haft, bereits enthalten sei, auf die Isolationshaft im Inland auszudehnen. Die Sonderhaft der RAF-Gefangenen müsse „mindestens dreifach“ angerechnet werden. Einen entsprechenden Vorstoß hatte das OLG Hamburg im Fall von Christine Kuby kühl abgeschmettert: Diese Idee finde „im Gesetz keine Stütze, so daß sich ein weiteres Eingehen darauf erübrigt“. Klusmeyer konterte, wenn dies das Problem sei, könne der Gesetzgeber die fehlende Stütze ins Gesetz hineinschreiben. Allerdings habe der Staat seine „politische Entscheidung gegen eine Lösung für alle Gefangenen“ längst getroffen.

Als Mutmacher war Hans Branscheidt von Medico International nach Mainz gereist, gerade zurück von einem Besuch bei kurdischen und syrischen Oppositionellen. „Dort“, so seine Beobachtung, „käme kein Mensch darauf, in Frage zu stellen, daß diese Leute in Freiheit gehören“. Hierzulande, stehe, wer sich zur RAF bekenne, „unter einem Legitimationsdruck, den es anderswo gar nicht gibt“. Der Applaus des Auditoriums war Hans Branscheidt sicher.