Von fünf Sinnen der eine

Zu einer Tagung über „Bild und Reflexion“ in Münster: Zweifel an der Macht des Begriffs  ■ Von Rüdiger Zill

Die harten Facts vorweg: Münster hat vom 18. bis zum 20. März eine Tagung zum Thema „Bild und Reflexion“ gesehen. Sie sollte als Anlaß dienen, eine „Deutsche Gesellschaft für Ästhetik“ zu gründen. Drei Nachwuchs-Ästhetiker (Karlheinz Lüdeking, Birgit Recki, Lambert Wiesing) haben die Initiative ergriffen, um auch hierzulande den institutionellen Standard zu erreichen, der andernorts längst üblich ist.

Münster: im Stadtzentrum der Dom, karg und solide. Die eckigen Türme streben nicht zu hoch in den Himmel. Im Kreuzgang: geköpfte Heilige. Hier und da sieht man noch die Spuren des Bildersturms, den die schriftgläubigen Reformatoren 1535 hinterlassen haben. So etwa auf dem Grabstein einer Äbtissin, deren Gesicht mit rhythmischen Schlägen zerkerbt worden ist, um die Macht der Bilder zu brechen, einer psychologischen Macht im Dienste einer politischen: der Macht der katholischen Kirche.

„Worin besteht die Macht der Bilder?“ fragt Gottfried Boehm in seinem Vortrag, der in Fußweite vom Dom stattfindet. Die 80er Jahre hätten einen großen Aufschwung der Bildtheorie erlebt. Das sei allerdings eine Reflexion, die eher in nostalgischer Melancholie nach vergangenen Kulturparadiesen geschwelgt habe: vom Abschied von der Gutenberg-Galaxis direkt zur Agonie des Realen.

Boehm hält den Festvortrag, kann es sich also erlauben, einen weiten Bogen zu schlagen von den Urgründen des Bilderverbots im Alten Testament bis zur modernen Malerei des Erhabenen. Seine These ist, daß Bildersturm und Bildanbetung zwangsläufig aufeinander folgten. Bilder tendierten dazu, sich selbst aufzuheben und damit – wenn auch aus ganz anderen Gründen – die Forderung ihrer Feinde einzulösen. Die illusionistische Darstellung will täuschen, will ganz im Dargestellten verschwinden. Bild soll in Realität übergehen. Neuerdings bastardisiere sich das Bild immer mehr mit den Dingen, werde zum Objekt-Bild oder erweitere sich in flüchtige Aktionen wie die der land-art. Andererseits ist auch das bildlose Zeichen Artefakt, kommt ohne ikonische Elemente nicht aus. Masaccio, Magritte, Delaunay, Duchamp, Mark Rothko, Arnulf Rainer sind Stationen auf dem Wege der Boehmschen Analyse, schließlich – unvermeidlich – Barnett Newman. Anders als mancher gegenwärtige Bestsellerautor (von Postman bis Virilio) sind die Münsteraner Referenten keine Bilderstürmer. Hans Ulrich Gumbrecht versichert, daß das philosophische Beurteilen und Interpretieren der schnellen Bilder, die an uns täglich vorbeiflitzen, überhaupt nicht möglich sei, weil die westliche Denktradition epistemologisch immer noch mit den Mitteln der frühen Neuzeit arbeite. Er veranstaltet dann auch – mit Foucaults Hilfe – eine medientheoretische tour de force durch ein halbes Jahrtausend: vom Buchdruck über die Photographie zum Film. Anders als noch bei den mittelalterlichen Handschriften sind im Buchdruck keine Körperspuren mehr vorhanden. Das hat die Entwicklung des neuzeitlichen Subjekts mitbestimmt, eines Subjekts ohne Körper, ohne Geschlecht, das nun Wissen über die Welt akkumulieren kann, ohne seine eigene sinnliche Verfassung mitreflektieren zu müssen. Dieser „Beobachter erster Ordnung“, wie Gumbrecht ihn nennt, gerät spätestens im 19. Jahrhundert in die Krise. Literatur wie Technikgeschichte sind seitdem auch der Versuch einer Antwort darauf – jedoch ein gescheiterter.

Aber Gumbrecht will keineswegs in den Chor der kulturpessimistischen Kassandren einstimmen, er hält es keineswegs für notwendig, die Wahrnehmung absolut in Begriffe zu überführen.

Das hält auch Ferdinand Fellmann für unmöglich. Denn Begriffe zeigten keine Objekte (die sind immer konkreter, das Bild nur eine partielle Ansicht von ihm), auch nicht die Intentionen des Malers oder Fotografen, denn die Darstellungen entsprächen nie ganz den ursprünglichen Absichten. Intentionen richteten sich auf Sachverhalte, und die ließen sich nur durch Abstraktionen, das heißt durch Begriffe, eindeutig darstellen. Bilder sprechen vielmehr von Zuständen: In diesen Zuständlichkeiten verschmelzen wie in Stimmungen Subjekt und Objekt, sie sind etwas Dauerhaftes, in dem kein in der Zeit sich durchhaltender Kern zu finden ist. „Zuständlichkeit“ sei ein Grundbegriff der Erfahrung, eine Weise der Welterschließung. Fellmann fordert uns auf, die Bilder ernster zu nehmen, nach dem „linguistic term“ brauche man jetzt einen „imagic turn“.

Bild und Reflexion: Schräg gegenüber vom Dom ist das „Westfälische Landesmuseum“, in einer versteckten Ecke hängt die Bildserie eines niederländischen Kleinmeisters aus dem frühen 17. Jahrhundert, Pieter von Noorts „Die fünf Sinne“, bildliche Allegorien unserer Wahrnehmungsvermögen. „Der Geschmack“ zeigt einen fröhlichen Zecher, „das Gesicht“ einen Mann, der aufmerksam die Flüssigkeit in einem Kolben begutachtet; „das Gefühl“ wird von einem zufrieden lächelnden Kaufmann, der sein Geld zählt, verkörpert – und so fort. Die Sinne, unsere Rezeptoren selbst, sind schwer sinnlich darzustellen. Das Abstrakte soll konkret werden: Reflexion durch Bilder.

Es soll Stimmen gegeben haben, die die Einengung der Tagung auf einen Sinn, ja gerade die Bestätigung der herkömmlichen Dominanz des Blickes kritisiert haben. Dennoch kam die Konzentration dem Ergebnis zugute. Überdies: Wie in kaum einem anderen Problem haben sich im Verhältnis von Bild und Reflexion die Fragen des Ästhetischen in den letzten Jahren geballt, nicht nur in der weiten Bedeutung des Begriffs – wenn man so will: des Aisthetischen –, der auf eine Theorie der Wahrnehmung generell zielt, sondern auch im engeren Sinne des traditionell Ästhetischen: dem Feld der Kunst. Heinz Paetzold wies noch einmal darauf hin, daß moderne Kunst in hohem Grade reflexiv geworden ist. Theorie geht in ihr Selbstverständnis ein, sei es in Form der Essays, die Künstler über ihr Werk schreiben, sei es auch, indem Kunst ihre Bedigungen und Mittel thematisiert. Paetzold erinnert an eine Äußerung Lyotards, nach der Malerei heute darin bestehe, nacheinander alle ihre Voraussetzungen in Frage zu stellen: „Lokalfarbe, Linearperspektive, Wiedergabequalität der Farbtöne, Rahmung, Formate, Grundierung, Medium, Werkzeug, Ausstellungsort...“.

Paetzold will auf Cassirers und Nelson Goodmans Symboltheorie aufbauen und sie durch den Begriff des Konzeptionellen ergänzen. Die Arbeiten der Künstler erschlössen sich erst, wenn man dieses Konzeptionelle, das sich in ihren schriftlichen Äußerungen finden lasse, mit berücksichtige.

Jörg Zimmermann, der erst gegen Ende zu Wort kam, beklagte die Vorwegnahme seiner Themen durch die Kollegen selbstironisch: „Wer zu spät kommt, den bestraft der Kongreß.“

Martin Seel kam auf eine Schieflage in der gegenwärtigen Diskussion zu sprechen. Die Ästhetik sei nur ein Teilbereich der Aisthetik, und daran müsse man festhalten, denn nur so könne sie ihre genuine Aufgabe erfüllen. Beide hätten vor allem je verschiedene Wahrnehmungsstrukturen von Raum und Zeit, die der Ästhetik sei selbstbezüglich und vollzugsorientiert, die der Aisthetik zielorientiert. Der Hauptgegner, den Seel im Visier hatte, war Wolfgang Welsch, der als Redner ebenfalls vorgesehen, aber krank geworden war. So blieb die geplante Konfrontation aus.

Da der Zweck der Tagung war, eine „Deutsche Gesellschaft für Ästhetik“ zu gründen, wurden auch einige Redner geladen, die sich nicht direkt mit dem Bild beschäftigten wie etwa der Ost-Berliner Karlheinz Barck. Barck widmete sich der politischen Bedeutung des Ästhetischen. Auch im Osten, speziell in der DDR, habe es ja in den achtziger Jahren eine Konjunktur der Ästhetik gegeben, wenn auch aus anderen Gründen als im Westen. In der DDR habe sie eine Kritik an der Macht bedeutet, an der Politisierung der Künste, an der Verschwisterung von Ethik und Ästhetik. Es sei auch um eine Umstellung vom Sinn auf die Sinne gewesen.

Die ästhetischen Utopien, wie man sie von Schiller bis zu den künstlerischen Avantgarden unseres Jahrhunderts immer wieder finden konnte, wollten stets die Universalisierung ihrer Aktionen; Kunst war ihnen immer Mittel zum Zweck. Die Zeit dieser Utopien sei abgelaufen. Was an deren Stelle treten müsse, seien „Heterotypien des Ästhetischen“, die die positiven Elemente der Utopien bewahren, aber nach „Gegen-Orten“ suchten. Jene Ästhetik hat sich aus ihrer Unterordnung unter die Vernunft zu befreien, Zweifel anzumelden an der Selbstbegründung der Vernunft. Der vordringliche Gegenstand sei die Toleranz gegenüber dem Dissenz, ein „Zusammenleben in Differenz ohne Indifferenz, das heißt ohne Gleichgültigkeit“.

Und die „Deutsche Gesellschaft für Ästhetik?“ Was soll man sagen: Sie wurde gegründet – getreu den Regeln des Vereinsrechts – und man nahm die Arbeit auf: wählte einen Präsidenten (Jörg Zimmermann), zwei Vizepräsidenten (Karl-Heinz Schwabe, Lambert Wiesing), einen siebenköpfigen Beirat und beschloß künftig alle drei Jahre solch eine Tagung zu veranstalten.