Wenn die S-Bahn-Fahrt zur Odyssee wird

■ Fachmesse für Behinderte „Integration 93“: Berlin hat für Behinderte wenig übrig

Berlin. Jeder Weg, den Bärbel Reichelt, 45, spastisch gelähmt seit ihrer Geburt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen muß, gleicht einer kleinen Odyssee. Zum Beispiel der Weg von ihrer Wohnung in Buckow zum Bahnhof Zoo: Die gut zwei Kilometer bis zum S-Bahnhof Buckower Chaussee muß sie mit dem Elektro-Rollstuhl bewältigen, weil in der Gegend nur Doppeldeckerbusse fahren, die für Rollstühle nicht zugänglich sind. Ihr Rollstuhl ist ein älteres Modell mit nur 5 km/h; bis sie damit die S-Bahn erreicht hat, vergehen 20 Minuten. Dann die Fahrt mit der S2 bis zum Bahnhof Friedrichstraße. Zwischendurch auszusteigen ist nicht möglich, weil es in keiner Station einen Lastenaufzug gibt für den 100 Kilogramm schweren Rollstuhl. In Friedrichstraße kann sie in der Regel umsteigen in Richtung Bahnhof Zoo, weil dort ein geeigneter Aufzug zur Verfügung steht. Ist der kaputt, wird es problematisch: Einmal hatte Bärbel Reichelt den Hinweg bereits bewältigt, aber auf dem Rückweg war der Friedrichstraßenaufzug außer Betrieb. Vier Stunden mußte sie bei Eiseskälte warten, bis „ein paar kräftige Männer“ sie auf die gewünschte Ebene beförderten.

Ab morgen wird sie Gelegenheit haben, öffentlich von derartigen Erlebnissen zu berichten. Sie ist Mitglied des „Cocas“-Vereins, eines Clubs für Behinderte und Nichtbehinderte, der sich für die Verbesserung der Mobilität von Behinderten einsetzt. Der Verein wird sich auf der „Integration 93“ vorstellen, der Fachmesse für Behinderte. Über 80 Aussteller werden von Freitag bis Sonntag unter dem Funkturm (Halle 10 und 11) Produkte und Dienstleistungen präsentieren, die der Rehabilitation und Kommunikation, der medizinischen und therapeutischen Versorgung sowie der Integration behinderter Menschen dienen. Im Rahmenprogramm wird es zum Beispiel um die Reisebedingungen Behinderter gehen, um die Darstellung in den Medien und eben um die schwierige Situation im Straßenverkehr.

Dabei ist der „regelrecht behindertenfeindliche“ (Reichert) Personennahverkehr nur ein Aspekt. So gibt es auf den achtzig S-Bahnhöfen der Reichsbahn nur vierzehn Aufzüge. Schlimm steht es auch um die behindertengerechten öffentlichen Toiletten. Gerade im Ostteil der Stadt sei so gut wie überhaupt keine vorhanden, sagt Rudi Hesse, der Vorsitzende des Selbsthilfevereins „Blauer Albatros“. Nur in Kaufhäusern fänden sich behindertengerechte Toiletten, „wir müssen also immer die Prozedur mit den Rolltreppen auf uns nehmen und dann meist noch lange warten, weil die Toiletten von Nichtbehinderten besetzt sind“.

Die Versprechungen der Politiker, daß die Situation sich ändern werde, wenn Berlin die Olympischen und vor allem die Paralympischen Spiele austragen dürfe, hält Bärbel Reichelt für peinlich. „Daß es erst einer solchen Veranstaltung bedarf, um den 20.000 Berliner Rollstuhlfahrern das Leben leichter zu machen, ist doch eine Schande für die Hauptstadt.“ Das Geld sei schließlich schon jetzt da, es werde nur am falschen Ort eingesetzt. Derzeit berät sie mit ihren Vereinskollegen über neue Flugblätter, die drastisch auf die Lage der Behinderten informieren sollen. Die Losung soll lauten: Baut Rampen statt Raketen! ger