Es genügen zwei Flügel

„Impressions de Pelléas“: Peter Brook in Babelsberg  ■ Von Peter Laudenbach

Seit über zehn Jahren war, abgesehen von dem kleinen südafrikanischen Stück „Woza Albert“, im Haus der Kulturen der Welt keine Inszenierung von Peter Brook in Berlin zu sehen. Jetzt zeigt der Meister seine Debussy-Bearbeitung „Impressions de Pelléas“ in den Dokumentarfilmstudios der DEFA in Babelsberg: eines der Berliner Kulturspektakel, bei denen sich die Schickeria bei Eintrittspreisen von 80 DM gern selbst feiert. Der eher an der Kunst als am „gesellschaftlichen Ereignis“ Interessierte muß den aufmerksamen Blick auf die Bühne gegen all das aufgeregte Geplauder, das Schielen auf die Minimal-Prominenz („da vorne ist Michael Merschmeier, da hinten ist Thomas Langhoff...“) schützen.

Brook hat Debussys symbolistische Oper sozusagen ausgenüchtert, ohne ihr die wundersame Leichtigkeit zu nehmen. Statt der Grotten und Schloßgemächer, in denen der Librettist Maeterlinck die Liebesverwirrungen geheimnisvoll-romantisch abrollen läßt, sehen wir einen großbürgerlichen Salon um die Jahrhundertwende. Kein Springbrunnen, kein Teich und kein Meer, nur ein in den Steinboden eingelassenes Wasserbassin und ein Goldfischaquarium – wenn, was bei Maeterlinck unübersehbar ist, Wasser mit bedrohlich-unabsehbarer Sexualität assoziiert wird, so ist sie hier zum harmlosen Schmuck domestiziert: Dieses Wasser wird die schönen Teppiche nicht überfluten.

Wir sehen keine Prinzen und Könige, sondern Bürger, die davon träumen, Prinzen und geheimnisvoll Liebende zu sein: Brook inszenierte die Entstehungszeit mit, er zeigt Debussys Oper als die Märchen- und Sehnsuchtswelt einer melancholischen Bourgeoisie, die sich aus den Salons hinaussehnt in ein romantisches Mittelalter. Für seine so analytisch durchdrungenen „Impressionen“ braucht Brook kein Opernorchester, es genügen zwei Flügel, von denen einer im Salon, der andere hinter der Szene steht. Als Pelléas und Melisande zum ersten Mal allein sind, sich in ihre Liebe hineintasten, spielt Brook witzig und charmant mit diesem sichtbar-irrealen Pianisten: Als fürchteten sie den Augenzeugen, umschleichen ihn die Liebenden, halten ihm eine Hand vor die Augen, und erst, als er nicht reagiert, wissen sie: Er sieht sie nicht, sie sind – „eigentlich“ – allein. Dezenter und deutlicher kann man die beiden Spielebenen – Salon und Märchenwelt – nicht verbinden. Brook zeigt in jedem Moment gleichzeitig das Spielerische und den unabweisbaren Ernst des Vorgangs, eine theatralische Schönheit, die der hiesige Theatergänger nur von den traumhaft leichten Inszenierungen Luc Bondys kennt: die Leichtigkeit des Spiels, die nicht unverbindliche Spielerei, sondern Vordringen zu existentiell-berührenden Schichten meint.

Brook bringt der Oper die Leidenschaft zurück: Wir sehen nicht, wie so oft im Musiktheater, feierlich steif oder lyrisch dahinschmelzende Sänger, die mit ihren Körpern und Gesichtern nichts anzufangen wissen, sondern Gesichter, die die Wut oder die verwirrende Liebe, von denen sie singen, empfinden: Auch wer kein Französisch versteht, sieht, was die Singenden erleben. Die Frage, ob das alles nicht lediglich gelungen-kulinarische Abendunterhaltung und reichlich old fashioned sei, wird neben diesem Kinderglück des Zusehens reichlich unwichtig: Wer interessiert sich schon für das Hickhack der diversen Avantgarden oder das sogenannte wirkliche Leben, wenn er solche Sänger sehen und hören kann?

Heute um 20 Uhr im DEFA-Dokumentarfilmstudio, Babelsberg