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Bazillus motoricus individualis

Veranstaltung der taz zum „Gesundheitsrisiko Verkehrsinfarkt“/ Bundesgesundheitsamt fordert Nachtfahrverbot für LKWs

Schöneberg. „Bazillus motoricus individualis“ – so nannte Bernd Köppl, Abgeordneter der Grünen und Vertreter der Ärztekammer, die Jahrhundertkrankheit der Großstädte. Daß sich dieser Bazillus vermehrt, darüber herrschte am Mittwoch abend auf einer taz- Veranstaltung im Rathaus Schöneberg weitgehend Einigkeit. Die Crux der gesellschaftlichen Endlosdebatte zeigte sich jedoch schnell: Mit welcher Therapie ist der Krankheit zu begegnen? Die forsche Forderung von Hartmut Ising vom Bundesgesundheitsamt, in Wohngebieten für laute Lastkraftwagen und Motorräder ein Nachtfahrverbot durchzusetzen, wies der verkehrspolitische Sprecher der CDU, Rainer Giesel, prompt zurück. Schnell fanden sich die Teilnehmer unter den bekannten Fahnen wieder, etwa bei der Frage, ob Restriktionen gegen den Verkehr notwendig sind. Durchaus, meinte Charlottenburgs Gesundheitsstadträtin Annette Schwarzenau (Grüne) und verwies auf Parkraumverknappung als ein mögliches Mittel. „Verbote helfen nicht“, meinte hingegen der CDU- Mann Giesel. Er pochte vielmehr darauf, die innovativen Kräfte der Industrie in die Pflicht zu nehmen: „Wir erreichen nichts, wenn wir uns von den Motorisierungsmöglichkeiten verabschieden, nur weil wir die Technik nicht beherrschen.“ Der „Interessenvertreter für die Belange des Verkehrs“ (Giesel über Giesel) enttäuschte die Erwartungen der rund 100 Zuhörer nicht.

Mit seinen Forderungen nach einer besseren Ampelschaltung zur Auflösung des Staus und eines Verkehrsmanagements anstelle einer PKW-Reduzierung animierte er immer wieder zu wütenden Zwischenrufen. Doch das waren die einzigen Gefühlswallungen an einem Abend, bei dem die Fachleute auf dem Podium und im Publikum weitgehend unter sich blieben. Johannes T. Hübner vom kleinen „Automobilclub von Deutschland“ (993.000 Mitglieder) bemängelte denn auch die „fehlenden Visionen“ bei den Verantwortungsträgern in Politik und Gesellschaft. Auch wenn sein Verein dafür „belächelt“ werde – warum nicht Waren in unterirdischen Röhren durch Großstädte verbringen? Warum nicht schon jetzt für Güter einen Transportpfennig erheben und die gewonnenen Mittel in den öffentlichen Nahverkehr stecken?

Von solcherart Gedankenspielen waren die Insider jedoch weit entfernt. Sie widmeten sich lieber Detailfragen Berliner Kommunalpolitik. So blieb auch die spannende Frage von AOK-Vertreter Harald Möhlmann, ob die Gesellschaft nicht an einem Übermaß an Mobilität leide und welcher Preis für weniger Verkehr gezahlt werden solle, unbeantwortet im Raume stehen. Severin Weiland

Für Krankenkassen haben Verkehrsunfälle die unmittelbarste Bedeutung. Denn die Zahl der Unfallopfer ist die offensichtlichste Folge des Verkehrs. Luftverschmutzung, Lärm und Verkehrsstreß führen zu indirekte Folgen wie Herzkreislaufstörungen und Krebs. Schritte gegen Umweltbelastungen deshalb gewinnen bei uns immer mehr an Bedeutung.

Der Patient Berlin leidet zunehmend am Bazillus motoricus individuales. Trotz medizinischer Behandlung breitet sich der Erreger weiter aus. Die Verengung seines Lebensraums – etwa durch Busspuren oder Wegnahme von Parkplätzen – hat sich bisher nicht durchsetzen lassen. Die Vereinigung Berlins hat den Lebensraum für den Bazillus erneut vergrößert.

Die Folgen des Verkehrs müssen insgesamt angegangen werden – ein Nachtfahrverbot für besonders laute Fahrzeuge genügt nicht. Die Autoindustrie muß den Schadstoffausstoß und die Lärmbelästigung mindern und alternative Antriebe entwickeln. In den besonders stark belasteten Innenstadtbezirken muß der Verkehr gebündelt und verflüssigt werden. Das wollen wir mit dem inneren und äußeren Ring erreichen. Heute, wo sich zwischen beiden Stadthälften noch keine Normalität eingependelt hat, können wir nicht mit Verboten arbeiten. Schließlich weiß niemand, wie sich die Verkehrsströme entwickeln, wenn die neuen Produktionsstandorte und Wohngebiete verwirklicht sind. Mit dem Ausbau des schienengebundenen Nahverkehrs setzen wir einen deutlichen Akzent. Den Autoverkehr wollen wir allerdings nicht abschaffen.

In Charlottenburg wurde die Belastung in sechs Straßen gemessen. Die Richtwerte für Lärm, Dieselruß und Benzol werden in allen Straßen, für Stickstoffdioxid in fünf Straßen überschritten. Das Bezirksamt geht davon aus, daß in den vielen verkehrsreichen Charlottenburger Straßen die Werte ähnlich stark überschritten werden. Gleichzeitig erkranken Kindern im Bezirk immer häufiger an Allergien. Bei einer befragten dritten Schulklasse hatten 40 Prozent allergische Beschwerden, jedes vierte Kind Atemwegsbeschwerden und überempfindliche Haut. KFZ-Abgase tragen zu diesen Erkrankungen bei. Ich als Gesundheitsstadträtin habe mich deshalb dafür eingesetzt, daß in Charlottenburg ein Allergie-Vorsorge- Programm eingerichtet wurde. Kinder werden auf Allergien untersucht und für sie und ihre Eltern Beratungen angeboten.

Der bedeutendste aller belästigenden Umweltfaktoren ist der Lärm. In Deutschland wird mehr als jeder Vierte erheblich belästigt – vor allem durch Straßenverkehrslärm. Bei einer repräsentativen Umfrage in Berlin gab jeder Dritte an, daß er mit der Ruhe in seiner Wohngegend wenig oder nicht zufrieden ist. Luftverschmutzung rangierte dagegen erst auf Platz zehn. Lärm – insbesondere nächtlicher – erhöht das Herzinfarktrisiko in einer Größenordnung wie das Passivrauchen. Etwa zwei Prozent der Infarkte gehen also auf die Rechnung des Verkehrslärms. Insbesondere nachts muß es deshalb ruhiger werden. Durch EG-Beschluß werden ab 1996 nur noch lärmarme Lastwagen und Busse zugelassen, die etwa drei bis fünf Prozent teurer sind als herkömmliche. Damit aber schnell das technisch Machbare umgesetzt wird, fordern wir von der gesundheitlichen Lärmforschung ein Nachtfahrverbot für LKWs in den Wohngebieten.

Als erstes sollten wir uns darüber einig werden, daß jede Art der Mobilität Schäden verursacht. Jeder Verkehrsteilnehmer ist zugleich Täter und Opfer. Der Umstieg von Auto auf Bus und Bahn allein kann aber keine Lösung sein: Denn wenn nur jeder 20ste Autofahrer umsteigt, müßte die Kapazität des öffentlichen Nahverkehrs verdoppelt werden. Deshalb müssen wir auch unser Konsumverhalten in Frage stellen: Es kann nicht sein, daß wir in Supermärkte am Stadtrand fahren, nur weil dort die Milch vier Pfennig billiger ist. Für den Bau von Gewerbe auf der grünen Wiese muß es endlich eine Prüfung auf Verkehrsverträglichkeit geben. Eine Verminderung des Verkehrs könnte darüber hinaus durch Anreize wie etwa den Transportpfennig erreicht werden. Ein Pfennig auf jedes transportierte Pfund ergäbe für die Bundesrepublik jährliche Einnahmen von 50 Milliarden Mark. Geld für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs.

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