■ Die Stadt, der See und der Ctenopharyngodon idella
: Wenn der See glatt zweimal kippt

Berlin (taz) – Der Ctenopharyngodon idella, auch bekannt als Weißer Amur, China- oder Graskarpfen, ist ein etwa ein Meter langer Karpfenfisch, der in Süßgewässern Ostasiens lebt. Er ernährt sich von Wasserpflanzen. Dadurch wird er zu einem wirtschaftlich wichtigen sog. „Nutzfisch“, der seit einiger Zeit auch in Westasien, Japan und Europa in der Teichwirtschaft mit gutem Erfolg eingesetzt wird. So ungefähr ist es in Meyers 25bändigem enzyklopädischem Lexikon nachzulesen.

Das werden auch einige Beamte der niedersächsischen Großstadt Salzgitter getan haben. Denn dort gab es letztes Jahr ein Problem. Dabei ging es ausnahmsweise nicht um Zahlungen für Zwangsarbeiter der ehemaligen Hermann-Göring- Stahlwerke oder die renitente Erfolglosigkeit diverser ortsansässiger Fußballmannschaften. Diesmal ging es um Salzgitters vor dreißig Jahren ausgeschachtete und mit den Wassern der Fuhse gefüllte Naherholungsattraktion, den Salzgittersee. Dieses beliebte Gewässer, das an Sommerwochenenden bis zu 100.000 Menschen anlockte und erfrischte, drohte Mitte der 70er Jahre mit Wasserpflanzen zuzuwachsen. Da wurde als Retter in der Not flugs jener Graskarpfen importiert und zwischen 1974 und 1983 mit knapp 15.000 Exemplaren auf die überschüssige Seegrundflora losgelassen.

Doch See ist nicht gleich Karpfenteich. Die asiatischen Verwandten unserer Neujahrsdelikatesse verrichteten – wie nicht anders zu erwarten – ihre Arbeit gründlich und weideten den Seegrund akribisch leer. Nun drohte der See ein zweites Mal zu kippen. Das Baden wurde verboten. Die Bürger murrten. Die Presse war empört, und wieder mußten sich die besorgten Beamten Gedanken machen. Ergebnis: Die Karpfen müssen wieder aus dem See heraus.

Wie? Auch dafür wurde eine Lösung gefunden und als der Weisheit letzter Schluß umgehend an die Öffentlichkeit gebracht. Fischfangprofi Ulrich Seidlitz aus dem hessischen Edertal wurde für 10.000 Märker angeheuert. Von Montag bis Mittwoch dieser Woche nun sollten er und seine Mitarbeiter mit einem 200 Meter langen Netz der plattköpfigen silberglänzenden Gefahr zu Leibe rücken.

Am Montag morgen war der Parkplatz am nahe gelegenen Freibad überfüllt mit Kraftfahrzeugen und Anhängern, auf denen Wannen und Wassertanks festgezurrt waren, wußte die örtliche Presse zu berichten. Über 1.000 Schaulustige mit Wassereimern und Plastiktüten säumten das Seeufer und hofften auf ein außerplanmäßiges Festmahl. Hatte doch die Stadtverwaltung großzügig beschlossen, die Jagdbeute aus „gewerberechtlichen Gründen“ kostenlos an die Bevölkerung verteilen zu wollen. Gegen Mittag kam es dann zu den ersten Verteilungskämpfen. Zwar war es den Fischern gelungen, zwölf Zentner Fisch aus dem Gewässer zu holen, Hunderte von Zandern, Hechten, Barschen, Brassen und Spiegelkarpfen zappelten in den Maschen. Doch die durften alle wieder ins Wasser zurück. Lediglich 14 Graskarpfen hatten sich fangen lassen. Und um diese magere Ausbeute entstand unter den Feinschmeckern am Ufer eine redliche Keilerei.

Alle weiteren Fangversuche endeten mit ähnlich kargem Ergebnis. Statt reichlich Karpfen wird nun Hohn und Spott über die arme Stadtverwaltung ausgekippt, und Salzgitter hat endlich auch sein Rätsel: Wer aus der Umweltverwaltung verriet den Plan an die pfiffigen Graskarpfen?

Und warum steht in Meyers Lexikon nichts darüber, daß diese Fische die Eigenschaft haben, sich am Grund unter Steinen zu verkriechen und sogar Schleppnetz- Fischern eine lange Nase zu machen? Peter Huth