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Revolte gegen die Parteien

Italiens Sumpf erweist sich als Avantgarde Europas: Allerorten erregt die politische Klasse nur noch Ekel. Doch es gibt Hoffnungsschimmer.  ■ Aus Rom Wlodek Goldkorn

Wo sind sie, die De Gaulle, die De Gasperi, die Adenauer oder auch nur die Togliatti, Nenni, Kurt Schumacher und Guy Mollet dieses Jahrhundertendes? Es gibt sie einfach nicht.

Politik und Politiker erregen nur noch Ekel: diese Ansicht jedenfalls eint berühmte Politologen und Lehrstuhlinhaber mit den Leuten in der Tram. Die Parteien müsse man schlicht auflösen.

Eine Welle der Rebellion, eine anti-institutionelle Revolte, überrollt den Alten Kontinent. Von Paris bis Berlin, von Rom bis nach London: die kommenden Jahre könnten zur Epoche des „Mannes auf der Straße“, des „Signor Qualunque“, werden.

Das von Skandalen erschütterte und aller institutionellen Bezüge beraubte Italien ist nicht mehr die Ausnahme, sondern vielmehr die Avantgarde: Eine Art Labor, in dem sich alle Krankheiten der politischen Klasse, die Europa regieren möchte, manifestieren. Durchaus möglich, daß das unrühmliche Ende dieser Klasse, sollte man nicht radikale Kuren finden, die Idee der Demokratie selbst in den Abgrund zieht.

Die Parteien sind vom Ausdruck bürgerlicher Gesellschaft zu allesfressenden Apparaten geworden, die den ganzen Staat verzehrt haben. Die Bürger dienen nur noch zum Zahlen, und um mit ihrer Wahlstimme die Korruptionsfälle, Klauereien und den blinden Run auf Privilegien zu legitimieren.

Was ist nur mit dem armen Europa geschehen? Steht es möglicherweise vor einer epochalen Krise? Oder ist nur die Form der Partei als solche, wie sie sich seit Mitte des vorigen Jahrhunderts entwickelt hat, überholt? In diesem Falle wären die Auflösungsschreie nichts anderes als die Suche nach dem Neuen.

Letzteres vermuten angesehene Kommentatoren, Philosophen, Politologen, Staatsmänner. In Deutschland zum Beispiel Richard von Weizsäcker, in Italien Paolo Flores d' Arcais: „Der Fall der Mauer“, so der Chefredakteur der Polit-Zeitschrift Micromega, „und die Niederlage des Kommunismus haben der durch die Parteienherrschaft verursachten Degeneration der Demokratien schlichtweg das letzte Alibi entzogen.“

Nicht zufällig strahlen heute nur noch jene Personen Vertrauen aus, die die Dinge wirklich beim Namen nennen – von Weizsäcker etwa oder auch der italienische Staatspräsident Scalfaro.

Die Parteien klauen? Jawohl.

Nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland, dem Musterland des Pragmatismus, wird jenen Leuten, die die res publica leiten sollen, vorgeworfen, sie schwatzten noch über politischen Kleinkram. Angesichts der enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben in Deutschland die sogenannten „sozialen Kräfte“ einen „Solidarpakt“ geschlossen. Doch der Präsident der Bundesbank kommentiert das dann ironisch so: „Die getroffenen Maßnahmen passen gut zu einem ,Solidarpakt‘. Dennoch weiß ich nicht, worin der denn nun besteht.“

Die Parteien klauen? Jawohl. Aber nicht nur in Italien. In Frankreich führen die ständigen Verletzungen der Parteienfinanzierungsgesetze zum Aufstand der Justiz, die unabhängig werden will von der Exekutive – um diesen Polit- Ganoven endlich das Handwerk zu legen. Möglicherweise wird es ihnen jetzt auch gelingen. In Deutschland hat das Verfassungsgericht das Parteienfinanzierungsgesetz für verfassungswidrig erklärt.

Doch die Parteien finanzieren sich eben auch über Stiftungen – die Konrad-Adenauer-Stiftung etwa bringt jährlich 177 Millionen Mark zusammen. Ein Beispiel, das auch den italienischen Parteien in die Augen stechen könnte, um das alte System der Parteienherrschaft doch noch zu retten.

Angesichts der gegebenen Prassereien, sagt der Speyrer Rechtsprofessor Herbert von Armin, „bekommen die Menschen den Eindruck, daß die Politiker immer mehr an Macht und Geld, und immer weniger an die Lösung realer Probleme denken.“ Noch drastischer der französische Philosoph und Politologe Jean-François Revel: „Eine merkwürdige Art, Liebe zu unseren Institutionen wecken zu wollen, indem man von der Bevölkerung verlangt, mit der Ausrede einer Verteidigung der Demokratie Bestechlichkeit zu tolerieren.“

Dazu kommt der Lebensstil der Politiker – nach Art der sowjetischen Nomenklatura. Urlaub wie Emire, den Regierenden vorbehaltene Villen in luxurösen exotischen Urlaubsparadiesen, in denen man an einem einzigen Abend das Monatsgehalt eines Arbeiters ausgibt – doch tatsächlich zahlt der Politiker natürlich überhaupt nichts, weil den Mächtigen dieser Welt alles von zuvorkommenden Patronen geschenkt wird. Alles Dinge, die die Geduld der Menschen erschöpfen.

Sterben wir also an einer neuen Ohnemichel-Bewegung, am „Qualunquismo“? Vielleicht nicht, eine gewisse Hoffnung besteht. In Italien entstehen neuen Zusammenschlüsse wie die Ligen, die Reform-Bewegung Mario Segnis, die „Rete“ des antimafiosen Ex-Bürgermeisters Leoluca Orlando. In Frankreich erklärt mehr als die Hälfte der Bevölkerung, sich für Politik zu interessieren. Doch niemand erträgt mehr die wachsende Professionalisierung politisch-gesellschaftlichen Engagements. Die Hoffnungen liegen anderswo.

Der Politologe René Remond hat festgestellt, daß die Zahl der Parteimitglieder ziemlich genau jener der Mandatsträger – vom Abgeordneten über den Bürgermeister bis zum Gemeinderat – entspricht. In England macht sich nach dem Abgang von Margaret Thatcher ein Vakuum politischer Führerschaft bemerkbar; der Herausgeber des Economist und neue Vizepräsident der Nationalbank, Ruppert Penant Rea, meint, daß sich die Rolle der Parteien erschöpft und daß dies zu Formen direkterer Demokratie führen wird: Häufigere Volksentscheide und eine direkte Wahl des Chefs der Exekutive.

Parteien, die der Bürger wie ein Taxi benutzen kann

Judith Warner, Stadträtin in Westminster, berichtet, wie sich die Menschen immer stärker in der Gemeinderegierung wiedererkennen statt in der nationalen Führung. Alles Widerstände gegen die Professionalisierung der Politik – und das wird von Politikern mittlerweile auch erkannt. Michel Rocard hat sogar die Auflösung seiner eigenen Sozialistischen Partei verlangt.

Die Zukunft Europas, sofern sie sich demokratisch entwickeln sollte, wird den Volksbewegungen gehören, den Querbeet-Koalitionen, den Parteien, die den Wählerwillen nicht manipulieren, sondern die der Bürger wie Taxis benutzen kann. So hat das vor vier Jahren der Pole Bronislaw Geremek ausgedrückt, der große Stratege der Solidarność. Damals dachten alle, daß das die Vision eines Entwicklungslandes sei, das noch nicht auf westlichem Standard angekommen ist. Heute muß man wohl anerkennen, daß Geremek recht hatte.

Der Autor, gebürtiger Pole, lebt seit 17 Jahren in Rom und ist Redaktionsmitglied von L'Espresso, für den dieser – hier auszugsweise wiedergegebene – Artikel auch entstand.

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