Armlehnen zeigen den wahren Charakter

■ Sessel sind nicht nur Sitzgeräte mit vier Beinen / Die neuen Trends lassen sich beim Gang durch einschlägige Läden nur schwer ausmachen / Der vielbeschworene "Mut zur Häßlichkeit" ist nicht angesagt

Berlin. Wer immer noch denkt, ein Sessel sei einfach nur ein Sitzgerät mit vier Beinen, auf dem man sich gemütlich ausruhen kann, liegt weit hinter dem Zeitgeist zurück. „Das sind Vater und Mutter Stier“, stellt Möbeldesigner Christoph Ernst seine Produkte vor. „Sie haben schon acht Junge in die Welt entlassen.“ Vater und Mutter Stier sind zwei Sessel, die in der Werkstatt „Tabu La Rasa“ in der Brunnenstraße 192 entstanden sind. Ihre Sitzfläche ist relativ schmal, ein kleines Kuhfell dient als Polster. Die Rückenlehne, ein Stück rohes Holz, ist schmal und hoch. Das Gestell besteht aus rohem Eisen, das in der Werkstatt zusammengeschweißt wurde. „Vater Stier“ erkennt man an der Armlehne an der rechten Seite, auf der eine faustgroße Eisenkugel thront. Setzt man sich darauf und läßt die Hand locker auf der Kugel ruhen, so fühlt man sich unweigerlich als Patriarch. Die weibliche Ausführung, „Mutter Stier“, läßt sich leicht an den riesigen Lippen auf der Rückenlehne erkennen. Der Stil ist der gleiche. Das liegt in der Familie. Von trautem Familienleben scheint der Designer nicht viel zu halten. Die „Stiere“ verkauft er auch einzeln: für 3.200 Mark.

Daß nicht nur Männer herrschen, das beweist das Modell „Evil Queen“. „Der Sessel soll der Benutzerin das Gefühl von Geborgenheit und Stärke vermitteln“, erklärt Christoph Ernst. Die Lehne, die der bösen Königin den Rücken stärken soll und sie überragt, ist ein leicht verdelltes, angelaufenes Messingblech in Form einer dreizackigen Krone. Die Armlehnen zeigen den wahren Charakter der Herrscherin: Spitze Blechzacken laufen auf den Betrachter zu. Bedrohen ihn. Auch bei diesem Sessel besteht das Gerüst aus grobem verschweißten Eisen. Den edlen, monarchischen Touch verleiht das Sitzkissen aus mintfarbenem Samt. Kostenpunkt: 2.800 Mark.

Ein Sessel, der sich verkleiden läßt

Auch ein Besuch in konventionelleren Möbelgeschäften zeigt: Die Sessel von heute lassen sich nicht mehr ungestraft vor die Furnierholz-Schrankwand stellen. Das Modell Vittorio (gesehen bei Boomtown in der Potsdamer Straße) sieht fast aus wie ein normaler Ohrensessel. Die asymmetrisch abfallende Rückenlehne und der grelle fliederfarbene Veloursbezug zerstört die Illusion. Besonders fesch dazu: die tränenförmigen Sofakissen. Da ein Vittorio (1.280 Mark) das Wohnzimmer noch nicht voll macht, gibt es auch das passende Sofa für 3.247 Mark.

Teure Museumsstücke zum Draufrumlümmeln

Wer sich beim Sesselkauf nicht auf Jahre festlegen will, für den wurde „Das Blaue vom Himmel“ geschaffen. Der schwarze Ledersessel läßt sich verkleiden: Über die Lehne, die etwas zu schmal ist, um noch bequem zu sein, lassen sich verschiedene Hauben streifen. Der Sessel kann so wahlweise als Mickey Mouse oder Drache getarnt werden (der Sessel pur kostet 1.250 Mark, pro Haube rund 300 Mark extra).

Gebildete Menschen gehen gerne ins Museum. Statt jeden Sonntag das Bauhaus-Archiv zu besichtigen, kann man sich auch die Kreationen der großen Meister nach Hause holen. Quadratisch, praktisch, gut ist der Sessel „Le Corbusier, 1928“. Die Sitz- und Armpolster, mit feinstem Leder bezogen, werden von einem schlichten Gestell aus Stahlrohr gehalten. Weder beim Anschauen noch beim Sitzen stören unnütze Details. Design und Preis (4.785 Märker) wenden sich an etablierte Bildungsbürger. „Den kaufen in erster Linie Anwälte“, bestätigt auch die Verkäuferin von INTERN Einrichtungen in der Potsdamer Straße. Auch der Holzsessel „red and blue“ darf in keinem Kunstgewerbemuseum fehlen. Rote Sitzfläche, blaue Lehne schwarze Füße und Armlehne. Das Ganze im Bauklotzstil. Ein Vorteil, wenn man Stuhl zu Hause hat und nicht extra ins Museum gehen muß: man darf sich draufsetzen. Er ist zwar hart, aber trotzdem recht bequem. Dafür muß man auch 2.175 Mark bezahlen.

Menschenfeindliche Möbel sind nichts fürs gemütliche Heim

Drei Läden und drei völlig verschiedene Stile. Die neuen Trends in der Sitzmöbelmode lassen sich nicht ausmachen. Klar ist jedoch, mit dem dunkelbraunen Cord-Sessel im Ikea-Stil liegt man gnadenlos hinter der Zeit zurück, denn: Irgenwie auffällig muß so ein Sitzgerät schon sein. Trotz intensiver Recherche konnte der vermeintliche Trend zum „Mut zur Häßlichkeit“ von den Fachleuten nicht bestätigt werden. Auch den in Szene-Cafés verbreiteten leicht-menschenfeindlichen Stil der Mitropa-Restaurants hielten sie nicht für zukunftsträchtig. „Wer will sowas schon gerne in der Wohnung haben?“, fragte Thorsten, Verkäufer von Boomtown, zurück.

Wer sich dennoch partout nicht von seinen VEB-Stühlen trennen will, sollte ihnen zumindest einen neuen Bezug gönnen. Je nach Arbeitsaufwand kostet ein neues Polster um die 3.000 Mark (zum Beispiel bei POBO in der Oppelner Straße). Das könnte zum realexistierenden Tiger-Chic führen. Hauptsache, man kann zu seinem Sessel die passende Story erzählen, denn geschichtslose Sitze aus Massenproduktion sind out. Julia Gerlach