Die Gesundmacher

Heidi Schüllers Generalabrechnung mit dem medizinisch-industriellen Komplex  ■ Von Antje Vollmer

„Nierenentnahmen an Hirntoten sind auch für die beteiligten Ärzte und das Pflegepersonal belastend. Nur hartgesottene Routiniers gehen emotionslos damit um. Wer nur unter ,wissenschaftlichen‘ Aspekten einen Menschen ,ausschlachtet‘, verläßt nach einem solchen Eingriff pfeifend den OP. Alle anderen stehen betreten an der Leiche. Wenn nach der Entnahme alle Geräte abgestellt sind, ist es grabesstill. Anästhesisten und Schwestern bauen ihre Gerätschaften ab. Der ,Restmensch‘ wird für die Pathologie vorbereitet und, Kopf voraus, aus dem OP gefahren, bedeckt mit einem weißen Tuch. Am Fußende liegen seine letzten Habseligkeiten in einem Plastiksack und seine abgeschlossene Akte. Das war's.“

Heidi Schüller hat den Kittel der Götter in Weiß abgelegt und eine Abrechnung mit dem medizinisch- industriellen Komplex vorgelegt, die mit Kompetenz und in hellem Zorn geschrieben ist. Viele Jahre hat die Olympiakämpferin von 1972 und Fernsehmoderatorin von „III nach 9“ und „Talk im Turm“ in ihrem unbekanntesten Job gearbeitet, als Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin, bevor sie sich zu diesem Schritt entschieden hat. Jetzt ist sie die große Ausnahme von der Regel und muß sich warm anziehen bei dieser knallharten Auseinandersetzung mit ihrer Krähenzunft.

Nichts läßt das Buch aus, was im boomenden Gesundheitssektor bisher gehätschelt wurde: nicht den medizinischen Fortschrittsbegriff, nicht die Standesvertretung, nicht den gierigen Patienten, nicht die Katastrophenmedizin. Die gekränkten Kapazitäten reagierten standesüblich: Weder Stern noch Spiegel noch Herr Böhme bei Sat.1 mochten oder konnten einen der Ärzte-Fürsten oder Gesundheitsminister bisher bewegen, sich ihrer verwegensten Kritikerin aus den eigenen Reihen einmal für eine öffentliche Auseinandersetzung zu stellen. Daher dieses Buch.

Der Medizin-Markt ist das ganz große Geschäft mit dem ganz großen menschenfreundlichen Image – sozusagen ein Kulturträger der Moderne. „304 Milliarden DM, in Ziffern: 304.000.000.000 DM gaben die Bundesbürger allein im Jahre 1990 für ihre Gesundheit aus.“ Das waren weit über zehn Prozent des im selben Jahr erwirtschafteten Bruttosozialprodukts. Während weltweit den Industrienationen die Gesundheitskosten aus dem Ruder laufen, in Schweden bereits der Wohlfahrtsstaat beerdigt wird und Hillary Clinton das noch teurere System der USA auf das vermeintlich gesunde deutsche System eindampfen will, schlägt Heidi Schüller eine Radikalkur vor: „Statt lediglich über Kosten hätte schon lange über den Nutzen medizinischer Maßnahmen gestritten werden müssen. Es gilt, die schlaraffenlandähnlichen Idealisierungen von Gesundheit, die sich auf Dauer jeder Finanzierungsgrundlage entziehen, abzubauen.“

Nach gesundem Menschenverstand klingt vieles in diesem Buch – gerade darin liegt ein Teil der Provokation. Schließlich legt es sich mit einer der Grundsäulen des traditionellen Sozialstaatsverständnisses an und entzieht sich damit den beliebten Verarmungs- und Verelendungsarien der etablierten Lobbyisten. „Die Wahrheit packt dich wie die Scheißerei“, heißt eines der Zitate, die die Autorin ihrem Buch vorausgeschickt hat. So ist die Bilanz des Bestehenden ziemlich nüchtern und realitätshaltig, „weil ich diese Kultivierung des Siechtums nicht unbedingt und grundsätzlich für einen ,Fortschritt‘ halte. Dazu habe ich diese letzte Phase des Lebens zu oft gesehen und begleitet.“ So wird denn auch mit allen Illusionen über die Altersmedizin aufgeräumt.

Wie sieht das Leben dieser Alten aus? Trostlos. Sie schlucken immer mehr Medikamente, oft von höchst zweifelhafter Wirksamkeit; sie füllen die Praxen der niedergelassenen Ärzte, die für das, was ihnen wirklich helfen würde, Gespräche und menschliche Zuwendung, am wenigsten abrechnen können; sie hoffen auf eine Kur oder die neueste medienaufbereitete Wunderheilmethode. Verschwiegen wird auch die Gesetzmäßigkeit der demographischen Entwicklung aller Industriestaaten: „Es droht eine numerische Diktatur der Alten.“ Im Jahre 2030 wird fast jeder zweite im Straßenbild ein Rentner sein, wenn es keine relevanten Zuwanderungen in die BRD gibt.

„Welcher Politiker hätte bislang den Mut gehabt, von der mächtigen Gruppierung der Alten Wohlstandseinbußen oder eine Kürzung ihres etablierten Forderungskataloges zu verlangen?“ Aufgeräumt wird auch mit dem Kassenideal der umfassenden Prävention. „Das ,Globalscreening‘ von fast 80 Millionen Bundesbürgern – auch von Gesunden – ist – aus finanzieller Sicht – der Anfang vom Ende. Da wird der niedergelassene Arzt zum Kleinunternehmer, der seinen Gerätepark amortisieren muß. Die Ausweitung der Diagnostik ins Unendliche, selbst dann, wenn die ,entdeckten‘ Krankheiten nicht therapierbar sind, ist einer der großen kostentreibenden Trends des Systems Medizin.“ Hier muß der Ansatz aller Reformen liegen. Gesundheit fängt im Kopfe an – und Krankheit auch. Demgegenüber bleibt die Autorin bei der klassischen Definition: Gesundheit ist „das Ruhen der Organe“.

Ruhen dürfen die Organe schon lange nicht mehr, weder beim dauerge,tüv‘ten Musterpatienten, noch auf der Intensivstation und in der Notfallmedizin. Neben der Diagnostik ist dies der zweite große Sektor unbegrenzter Expansion. Der medizinisch-industrielle Komplex weist in einigen Sparten Zuwachsraten von 30-50 Prozent auf. Nirgendwo werden soviel Brüste amputiert und Gebärmütter entfernt wie in Deutschland. Hinzu kommen die Allmachtsphantasien der Organtransplanteure. Das Experiment in Erlangen, wo eine hirntot definierte Verunglückte ihre Schwangerschaft austragen sollte, erkennt die erfahrene Anästhesistin und Notfallmedizinerin schnell als ursprünglich geplante Organausweidung.

Heidi Schüller ist ausgestiegen. Sie wollte nicht mehr „Gottvater spielen“, sie wollte nicht mehr teilhaben an „Überfallkommandos auf trauernde Angehörige“ unmittelbar nach der Todesnachricht. Sie fragt: „Wo bleiben die Grundwerte einer Hochkultur?“ Und: „Was läuft hier falsch?“ Am Ende des Buches finden sich die Grundideen eines völlig anderen Systems der Gesundheitsversorgung. Das beginnt bei einer realitätsgerechteren Definition der Begriffe „Krankheit“ und „Gesundheit“. Es fordert statt dessen eine Trennung der „Luxusmedizin“ von der Grundidee der Solidargemeinschaft. „Gegen den Wunsch einzelner nach Luxusmedizin gibt es kein Rezept. Wer sie will, der kann sie haben – aber er muß sie außerhalb der Solidarkasse selbst versichern und bezahlen.“

Unter dem Gedanken einer wirklichen Solidarkasse aber „haben die Schwachen und Kranken Vorrang vor den Gesunden. Aus dem Beitragsvolumen der Solidarkasse müßten also zuerst die großen Problemfälle angegangen werden (Unfälle, Notfälle, chronisch Schwerkranke) und erst später die Marginalbeschwerden. In den letzten Jahren lief das umgekehrt. Für jede diagnostische Suche nach einer exotischen Rarität war genügend Geld vorhanden, aber Intensivstationen wurden geschlossen.“ Heidi Schüller, parteilos, war von der SPD im Landtagswahlkampf Baden-Württemberg als Kandidatin für das Sozial- und Gesundheitsministerium vorgestellt worden. Sie hat damals mit ihren Thesen Furore gemacht und manchen öffentlichen Streit mit Ärzten und Patienten ausgefochten. Ministerin ist eine andere geworden, eine SPD-Genossin... Schade, zu gern hätte man doch die Kritikerin im Amt gesehen, bei der Umsetzung ihres Buches in die Wirklichkeit.

Heidi Schüller: Die Gesundmacher, Rowohlt, Berlin 1993, 240 Seiten, 34.- DM