Wer kann die Krise in Rußland beenden?

■ Die MoskowiterInnen schenken keinem der Politiker großes Vertrauen

Moskau (taz) – Seit nunmehr fast einer Woche versucht sich der russische Präsident Boris Jelzin gegen seine nationalistisch-kommunistischen Gegenspieler zu behaupten – doch der Alltag der Achtmillionen-Stadt hat sich dadurch kaum verändert. Fast an jedem Tag gibt es Demonstrationen der Demokraten oder der Kommunisten und Nationalisten. Mehr als ein paar tausend Menschen kommen da aber nicht zusammen. Die Fernsehansprachen häufen sich. Man hört nicht mehr so genau hin. Die Sorge um die tägliche Ernährung, die Sicherung von Wohnraum und Arbeit, das sind die Themen, die die Menschen am meisten berühren. Verglichen mit den Tagen im August 1991 nehmen die Menschen weniger aktiv am Geschehen teil. Allgemein herrscht eine große Ratlosigkeit.

An der Metro-Station Kitaj Gorod, nicht weit vom Roten Platz: Olga ist 24 Jahre alt. Sie studiert Fremdsprachen. Jelzins Fernsehansprache vom letzten Sonnabend war für sie eine Erleichterung: „Ich war froh, als ich hörte, daß das Referendum stattfinden wird und daß ich Jelzin unterstützen kann. Ich habe Angst, daß die Kommunisten an die Macht kommen.“

Eigentlich „gefällt“ ihr Jelzin aber nicht. „Ich glaube, er ist nicht klug genug.“ Doch heute gebe es zu ihm keine Alternative. Auf die Frage, ob Jelzin die Verfassung verletzt hat, weiß sie keine Antwort. „Jugendliche meines Alters kennen die Verfassung nicht.“ Daß es zu einem Bürgerkrieg kommt, kann Olga sich nicht vorstellen. „Die Leute sind zu gleichgültig. Sie wollen keinen Krieg anfangen.“

Wie an fast allen Metro-Stationen gibt es auch hier einen Schwarzmarkt. Ältere, aber auch junge Leute verkaufen Nahrungsmittel und Zigaretten. Auf einer Holzkiste sitzt ein modern gekleideter „Bisnesman“. Er ist 21 Jahre alt. Jelzins Referendum im April interessiert ihn nicht. „Die Nazis müssen an die Macht kommen. Das wäre das beste. Sie würden hier Ordnung schaffen.“ Seine Freunde lachen. Auf die Frage, wer die ökonomische Krise des Landes am besten lösen könne, antworten die meisten: Weder Jelzin noch der Kongreß. Man ist der Meinung, daß die allgemeine Entwicklung nach mehreren Jahren zu einer besseren Wirtschaftslage führen wird.

Andrej ist Ingenieur. Er ist 32 Jahre alt. Mit seinen 21.000 Rubeln Gehalt kommt er aus, meint er. „Wenn Du nicht zuviel Fleisch ißt, vor allem Obst und Gemüse, reicht es.“ Ein Kilo Apfelsinen kostet heute in Moskau 370 Rubel, ein Liter Milch 100 Rubel. „Die Krise hat ihren tiefsten Punkt noch nicht erreicht.“ Doch Angst hat er nicht. Einen Bürgerkrieg werde es nicht geben. Sein Bruder jedoch sehe diese Gefahr. „Er verkauft Waren auf der Straße und sieht dort die Situation, deshalb hat er Angst.“

Gennadij ist Elektromeister in einem staatlichen Unternehmen. Er hat Chasbulatow im Fernsehen gesehen, als er auf dem Volkskongreß sprach. Gegen ihn hat er eine Antipathie, der sei Kommunist. Vor der Wirtschaftsreform brauche er als hoch qualifizierter Spezialist keine Angst zu haben. Ein Rentner drängt sich ans Mikrofon. „Es ist höchste Zeit, Jelzin abzulösen. Der kann nicht aufbauen, der kann nur zerstören.

Wie die Abstimmung am 25. April ausgehen wird, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Die Menschen, die für Jelzin stimmen wollen, halten es für möglich, daß er zwischen 30 und 60 Prozent der Stimmen bekommt. Wer die Krise heute lösen kann? Die 29jährige Sonja überlegt sekundenlang und findet keine Antwort. Jelzin, Ruzkoi, Chasbulatow? „Ich liebe Ruzkoi, als einen Mann.“ Sie lächelt und verschwindet im Gedränge. Ulrich Heyden