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SanssouciNachschlag

■ Reclam Leipzig in der literaturWERKstatt

Wenn es nicht gerade um die Literaten des Prenzlauer Bergs und ihre Stasi-Verquickungen geht, findet nur eine überschaubare Zahl von Interessierten zum fernen Majakowskiring in die literaturWERKstatt. Dort wurde am letzten Freitag die Reihe der Verlagsporträts fortgesetzt und Reclam Leipzig mit einem Band der neuen Reclam-Bibliothek (RBL), „Das Ghettobuch des David Sierakowiak“, vorgestellt.

Siebzehn Jahre alt war Sierakowiak, als er 1941 begann, seine Tagebücher über den Alltag im Ghetto Lodz zu schreiben. Die Übersetzerin Roswitha Matwin-Buschmann trug Passagen aus dem Werk vor, die einen literarisch höchst begabten jungen Schriftsteller erkennen lassen. In aphoristischer Kürze wird das Leid der Ghetto-Bewohner, ihr alltäglicher Kampf ums Überleben und ihre nie enden wollende Hoffnung geschildert. Sierakowiak besuchte die Schule, lernte Sprachen, verfaßte Gedichte und Artikel für die Ghetto-Zeitung. „Es besteht nicht der geringste Zweifel, daß er es sehr weit gebracht hätte“, schreibt Arnold Mostowicz, der als Arzt im Ghetto arbeitete und den Holocaust überlebte, in seinem Vorwort. 1943 starb David Sierakowiak an Tuberkulose, wie alle seine Verwandten. Seine Tagebücher wurden nach dem Krieg von den Russen entdeckt und 1961 in Polen veröffentlicht. Das wichtige und anschauliche Dokument wurde jetzt für Reclam Leipzig ins Deutsche übersetzt.

Gegründet wurde das Leipziger Verlagshaus 1828, damals noch als Leihbibliothek und Zeitschriften-Lesehalle unter dem Namen „Literarisches Museum“. Im „Klassikerjahr“ 1867 – die Verlagsrechte der wenigstens 30 Jahre zuvor gestorbenen Autoren erloschen – startete der Reclam Verlag mit Goethes Faust und Lessings Nathan seine Universal-Bibliothek, die ihn berühmt machte. Welcher Schüler oder Student kennt auch heutzutage nicht die kleinen gelben Hefte der Weltliteratur? Die deutsche Teilung teilte auch den Reclam-Verlag. Während die Familie Reclam ihre Arbeit in Stuttgart fortsetzte, wurde im Leipziger Stammhaus unter dem alten Firmennamen ein „sozialistischer Taschenbuchverlag“ etabliert. 1990 wurde Reclam Leipzig, wo auch zu Zeiten der DDR ein farbiges und vielseitiges Programm verlegt worden war, wieder in das Stuttgarter Familienunternehmen Philipp Reclam jun. eingegliedert. Trotzdem soll in Leipzig primär mit der ostdeutschen und der osteuropäischen Literatur ein eigenständiges Image geschaffen werden, wie Cheflektorin Birgit Peter betonte. Vielversprechende Akzente einer unabhängigen Programmarbeit setzen die Werke der tschechischen Lyrik, Romane von Franz Fühmann und Fritz Rudolf Fries oder eben David Sierakowiaks Ghettotagebuch in der neugestalteten Reclam-Bibliothek. Daniel André Haufler

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