Böser Onkel, guter Onkel

■ Heinrich Breloers Rekonstruktion "Wehner - die unerzählte Geschichte" heute abend in der ARD um 20.15 Uhr

Daß der Historiker Reinhard Müller im Moskauer Komintern- Archiv die Kaderakte Herbert Wehners eingesehen hatte, war Heinrich Breloer bekannt. Schließlich hatte der Filmemacher dort selbst recherchiert. Auch daß die Ergebnisse von Müllers Arbeit im Frühjahr als Buch auf den Markt kommen würden, war dem Filmemacher seit langem klar. Womit er indes kaum gerechnet haben dürfte, ist jener Medienrummel, der nun im Vorfeld der Publikation – nicht zuletzt dank der Plagiats-Querelen zwischen Stern, Spiegel und dem Rowohlt-Verlag – seit Wochen um die Figur Herbert Wehner tobt.

So gesehen hat Heinrich Breloer, Grimme-Preis-Abonnent und Erfinder einer originären Form des Fernsehspiels, Pech. Wenn heute abend sein zweiteiliger, 209 Minuten langer Film „Wehner, die unerzählte Geschichte“ ausgestrahlt wird, ist ein Teil dieser Geschichte inzwischen erzählt. Jene Geschichte des Kommunisten Herbert Wehner, der unter dem Decknamen Kurt Funk seinerzeit vor den Nazis nach Moskau flüchtete, dort in die Maschinerie des stalinistischen Terrors geriet und dabei selbst zum Täter wurde, indem er Genossen denunzierte, weil es – womöglich – die einzige Möglichkeit war, seine eigene Haut zu retten. Aber letztlich tut das vorzeitige Bekanntwerden der Einzelheiten über jene Moskauer Jahre der Faszination von Breloers Fernsehspiel kaum Abbruch.

Es ist die beeindruckende filmische Annäherung an den Menschen Herbert Wehner. Hier zeichnet Breloer mit stimmungsvollen Schwarzweißbildern seines Kameramannes Achim Poulheim das – fast schon zärtliche Bild – eines jungen Anarchisten, für den das Nacktbaden in sächsischen Seen zum selbstverständlichen Affront gegen das bürgerliche Spießertum gehörte. Ulrich Tukur gibt den jugendlichen Heißsporn als verträumten, sinnenfrohen Romantiker. Von ganz anderer Qualität, aber nicht minder übezeugend, sind jene Sequenzen, mit denen Breloer das Horror-Szenario im Moskauer Hotel Lux in den Jahren 1937 bis 1941 zum Leben erweckt, in dem Wehner, inzwischen hochrangiger KP-Funktionär, mit 600 anderen Exilanten erlebte, wie sich der vergötterte Stalin als rücksichtsloser Despot entpuppte. Ein Zusammenleben auf engstem Raum, wo bald keiner mehr mit dem anderen zu reden wagte, aus Angst, der andere könnte bereits auf der Liste stehen und der Kontakt mit ihm womöglich das eigene Todesurteil bedeuten. Eine kafkaeske Situation, für die der Film Sequenzen findet, die es in puncto Spannung mit jedem Thriller aufnehmen können.

Vom Leben gezeichnete Gesichter

Und dann sind da die unglaublichen, im besten Sinne vom Leben gezeichneten Gesichter dieser alten Damen, deren Interviews mit den Spielsequenzen verwoben werden. Lotte Loebinger, Schauspielerin bei Piscator, Wehners erste Ehefrau, die sich im Interview über den jungen „Herbert“ äußert, auf die Frage, ob Wehner die Liebe genießen konnte, unendlich lange nachdenkt und schweigt. Und da ist das erschütterte Gesicht einer Ruth von Mayenburg, seinerzeit Wehners Zimmernachbarin im Lux, wenn sie nach fünfzig Jahren erstmals wieder die Gänge der Schreckensherberge abschreitet oder in Wehners Akten von den Denunziationen des Genossen Funk liest. Wie auch immer diese Untaten zu bewerten sind (Breloer hält sich da weitgehend zurück), der Film macht nachvollziehbar, daß diese Moskauer Jahre bei Wehner ein Trauma hinterlassen haben müssen, das viele Charakterzüge des späteren SPD-Politikers zumindest teilweise zu erhellen vermag.

Nur, kurioserweise erscheint dieser Teil des Films mit dem Titel „Hotel Lux“, bis vor zwei Monaten von Breloer noch als erster geplant, nun als zweiter. Die Entscheidung, die Chronologie der Ereignisse umzudrehen, weil man dem „alten“ Wehner, noch vielen Zuschauern in lebendiger Erinnerung, mehr Quote zutraute, mag nachvollziehbar sein, dem Film insgesamt hat sie jedoch keineswegs gutgetan.

Denn, um den Wehner der BRD zumindest ansatzweise verständlich zu machen, hat Breloer noch flugs den „Hotel Lux“-Teil zu einer Kurzfassung zusammengeschnitten, die er vor den um 20.15Uhr ausgestrahlten Teil stellt und der jetzt quasi als Vorspann zum „Nachkriegs-Wehner“ fungiert. Eine hektische Umdisposition, die dramaturgisch wenig Sinn macht, zu überflüssigen Doppelungen führt und wahrscheinlich auch im Hinblick auf die Zuschauerzahl gar nicht mal nötig gewesen wäre. Schließlich hat der Presserummel um den „Moskauer“ Wehner für reichlich kostenlose PR gesorgt.

Sei's drum. „Die Nacht von Münstereifel“ ist im Hinblick auf seine erzählerischen Mittel ein gänzlich anderer Film als „Hotel Lux“. Ließen hier die nur spärlich vorhandenen Dokumente aus dem Leben des jungen Wehner viele Leerstellen, die es mit inszenatorischer Phantasie auszufüllen galt, geht es dort in erster Linie darum, hinter die Fassade des in zahlreichen Archivbildern festgehaltenen, knorrigen Partei-Dieners zu blicken. Der führte, von den Genossen nur „Onkel“ genannt, fast 14 Jahre lang die SPD-Fraktion. Das Hauptaugenmerk liegt hier auf der Rivalität zweier gänzlich verschiedener Charaktere. Hier der mehr oder minder unbeschädigt aus dem Exil zurückgekehrte Willy Brandt, Typus des modernen Lebemanns; da der asketische, kränkelnde, scheinbar nach allen Seiten um sich beißende Wehner, dem man ständig seine kommunistische Vergangenheit vorhielt. Aber auch, wenn Breloer hier aus insgesamt 200 Stunden Material virtuos Archivbilder mit Interviews mit Wehner-Vertrauten und Spielszenen (phänomenal: Heinz Baumann als grantelnder Wehner) montiert, bleibt dieser Teil eher kammerspielartig spröde. Die Dramatik „hinter“ der öffentlichen Politik vermittelt sich kaum. Das gilt insbesondere für die Inszenierung jenes titelgebenden Gesprächs Wehner–Brandt vom 4. auf den 5. Mai 1974 in Münstereifel, in dem Wehner dem Kanzler wegen der Guillaume-Affaire den Rücktritt nahegelegt haben soll. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Auch wenn es nicht eben Breloers stärkster Film ist, ein ebenso erhellendes wie sehenswertes Stück bundesrepublikanischer Geschichte ist auch dieser Teil, schon allein wegen seiner Fülle von Zeitzeugen, allemal. Zusammen mit durchweg überzeugendem Teil zwei („Hotel Lux“) reicht das noch immer locker für ein Fernsehereignis, wie es auf deutschen Mattscheiben höchst selten ist. Reinhard Lüke

Erster Teil „Die Nacht von Münstereifel“, ARD, 20.15 Uhr, zweiter Teil „Hotel Lux“, 23.05 Uhr