Täter und Opfer – im Gedenken gleich ?

Zur Denkmalskultur und dem Streit um die nationale Gedenkstätte in der Berliner „Neue Wache“  ■ Von Peter Reichel

Auf Betreiben des Bundeskanzlers hat die Bundesregierung zu Jahresbeginn beschlossen, Schinkels „Neue Wache“ an Berlins alter – und neuer? – Prachtstraße „Unter den Linden“ zur zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik zu machen. In der früheren DDR wurde sie seit 1960 als „Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus“ genutzt. Die geplante Umgestaltung wird den Innenraum – fast – so wiederherstellen wie ihn Heinrich Tessenow 1931 als Mahnmal für die Toten des Weltkrieges geschaffen hatte – groß und schlicht. Der schwarze Granitblock, auf dem wie auf einem Trauer- und Totenaltar ein in Gold-und Silberblech gefertigter Eichenlaubkranz lag – von kritischen Zeitgenossen gerühmt, heute jedoch zumindest mißverständlich – soll auf Anordnung des Bundeskanzlers ersetzt werden durch eine – weniger mißverständliche? – Vergrößerung der Pietá von Käthe Kollwitz. Wer wird hier beweint? Alle Toten? Die toten Täter auch? Das Gedenken gilt jedenfalls ebenso pauschal wie unbestimmt „den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ wie die allgemeine Widmungsinschrift heißen soll.

Man reibt sich die Augen. Haben sich Öffentlichkeit und Parlament mit dieser Frage nicht vor wenigen Jahren schon einmal beschäftigt? Damals – 1985/86 – stritt man sich um ein zentrales Mahnmal in Bonn. Die aktuelle Auseinandersetzung wird vor allem um die Frage geführt, ob man Schinkel, Tessenow und Kollwitz zu einem stimmigen „Dreiklang“ zusammenfügen darf und soll (so zustimmend Christoph Stölzl in der FAZ) oder ob man besser beraten wäre, den Lebenden und der gegenwärtigen Denkmalskunst zuzutrauen, daß sie „mit Geduld, Sensibilität und Phantasie ... nach zwei Weltkriegen und zwei Diktaturen eine eigene Sprache und ein Symbol für das Leid dieses Jahrhunderts“ finden würde (so im Gegenplädoyer Eduard Beaucamp, ebd.). Hier wird das Problem jedoch auf seine engeren (ohne Frage wichtigen) kunstgeschichtlichen und denkmalsästhetischen Aspekte begrenzt. Die übergreifenden historisch-politischen Bezüge kommen dabei kaum in den Blick. Und zweifellos handelt es sich hier um ein politisches Kunstwerk, um ein Gebäude mit einer politischen Funktion. In ihm soll Geschichtsbewußtsein zum Ausdruck gebracht werden – Ausdruck einer zumindest erneuerten nationalen Identität. Und hier liegt denkmalspolitisch das tiefere Problem.

Schon um die Jahrhundertwende – die „Denkmalswut“ mit Bismarcktürmen und Kriegerdenkmalen hatte sich noch nicht ausgetobt – wurde der „Denkmal- Kultus“ des 19. Jahrhunderts von manchen Zeitgenossen mit Argwohn betrachtet. Der Hamburger Kunsthistoriker und Kunsterzieher Alfred Lichtwark hat früh darauf hingewiesen, daß Denkmäler Manifestationen von Gruppeninteressen mit allgemeinem Geltungsanspruch seien. Die Demokratisierung im Denkmalbau – Pluralisierung der Denkmalsetzer und Differenzierung der Ausdrucksformen – verlief freilich zögerlich. Moderne Denkmäler wie das von Walter Gropius für die Märzgefallenen, Mies van der Rohes Denkmal für die ermordeten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Ernst Barlachs Güstrower Ehrenmal und Käthe Kollwitz' „Elternpaar“ auf einem belgischen Soldatenfriedhof blieben in der Minderzahl gegenüber der erdrückenden Flut von Kriegerdenkmälern im Gefolge des Weltkrieges. Wenn nun auch keine Siegesengel mehr aufgestellt werden konnten, die „im Felde unbesiegten“ Soldaten waren doch immer noch für etwas gestorben, für die nationale Ehre, für das Vaterland. Für ein Vaterland freilich, das nicht mehr oder noch nicht wieder bestand. Auf was der Tod der Weltkriegssoldaten die Lebenden verpflichtete, blieb also umstritten. Auf die Loyalität zur Weimarer Republik im Zweifelsfall nicht. Sie war von Anfang an in viele Lager gespalten und einer permanenten inneren Belagerung ausgesetzt – vor allem von rechts. Ein demokratisch-nationales Denkmal konnte ihr so wenig gelingen wie die Durchsetzung eines allgemein akzeptierten nationalen Feiertages. Glanz und emotionale Bindung gingen nur von der Trauer über den frühen Verlust ihrer wichtigsten Politiker aus. Nicht die demokratischen Institutionen und Traditionen der Republik wurden symbolprägend. Nicht mit ihrer Verfassung mochte sich eine Mehrheit der Deutschen identifizieren oder auch nur anfreunden. Das monumentale Tannenbergdenkmal für Hindenburg, den zweiten Präsidenten der Republik, wurde als eine Reverenz gegenüber dem zum Ersatzkaiser und nationalen Helden stilisierten Feldmarschall verstanden. Rückblickend erscheint es zugleich als eine Vorwegnahme der Nürnberger Parteitagsarchitektur und der zumindest geplanten „Totenburgen“, mit deren Errichtung jener Wilhelm Kreis beauftragt wurde, der sich schon beim massenweisen Bau von Bismarck-Türmen bewährt hatte.

Nach Auschwitz erschien dann kein Denkmal mehr wahrhaftig – wie ein zeitgenössischer Künstler ein bekanntes Adorno-Zitat einmal variiert hat. Verbraucht war der ganze Fundus ästhetisch-politischer Ausrucksformen – das vaterländische Pathos, die sakrale Aura um herausragende Persönlichkeiten und heroisch-stilisierte Ereignisse, die monumentale Dekoration ebenso wie die stille, religiös inspirierte Geste. Für das seinerzeit geplante Auschwitz-Denkmal verlangte der Jury-Vorsitzende Henry Moore Anfang der fünfziger Jahre nach einem „neuen Michelangelo“. Anfängliche Befangenheiten haben sich jedoch schnell gelegt. Längst werden wieder Denkmäler gebaut. In den ehemaligen NS-Konzentrations- und Vernichtungslagern und späteren Gedenkstätten geschah das in manchen Fällen schon unmittelbar nach der Befreiung – freilich nicht durch die besiegten Täter, sondern durch die überlebenden Opfer und die Besatzungsoffiziere. Denkmalsetzungen sind inzwischen populär und nicht selten umstritten. Immer wieder sorgen sie für Schlagzeilen und Konflikte. Ob es um das Heine-Denkmal in Düsseldorf geht, um Hrdlickas „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“ am Hamburger Dammtorbahnhof und zuletzt um das Denkmal für Walter Benjamin im katalanischen Port Bou oder eben auch um das zentrale „Mahnmal für die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft“ in Bonn, der Streit ist zumeist heftig und langwierig. Er muß deshalb nicht vergeblich und unproduktiv sein. Muß man die Entscheidung für die „Neue Wache“ und ihre Umgestaltung so übereilt vollziehen wie den Anschluß der früheren DDR an die Bundesrepublik und noch dazu ohne breite Beteiligung der Öffentlichkeit und der relevanten gesellschaftlichen Gruppen?

Der Bau von Denkmälern und Gedenkstätten ist ein wichtiges Feld für symbolische Politik und insofern von nicht geringer Bedeutung für die politische Kultur eines Landes. Ein Feld, auf dem die politischen Akteure ein je zeit- und gruppenspezifisches Geschichtsbild artikulieren und – wie modifiziert auch immer – im gruppenübergreifenden Konsens national verbindlich festschreiben wollen. Ein Feld, auf dem die Akteure den, zumindest in der Bundesrepublik, stark auf die NS-Zeit bezogenen Erinnerungsdiskurs zentralisieren oder umgekehrt – lokalen und regionalen Besonderheiten Rechnung tragend – gerade dezentralisieren und in der regelmäßigen Wiederkehr von Gedenkfeiern auch ritualisieren.

Hinsichtlich der „Neuen Wache“ drängt sich der Eindruck auf, daß die Bundesregierung eine öffentliche Auseinandersetzung nicht gewollt hat und auf die Konsensfähigkeit ihrer „einsamen“ Entscheidung gesetzt hat. Bliebe es dabei, wäre das meines Erachtens die falsche Konsequenz aus der kontroversen Diskussion um das zentrale Mahnmal in Bonn.

Mehrere geschichtspolitisch besonders engagierte Verbände, vom Zentralverband demokratischer Widerstandskämpfer und Verfolgtenorganisationen bis zum Ring Deutscher Soldatenverbände hatten bereits 1983 ein Aide-mémoire veröffentlicht mit dem Vorschlag, eine neue zentrale Gedenkstätte zu errichten, die „Opfer und Geopferte in einem versöhnenden Gedenken vereinen solle“. (Das Mahnmal auf den Bonner Nordfriedhof mit Kreuz und Gedenktafel – „Den Opfern der Kriege und der Gewaltherrschaft“ – schien für repräsentative Zwecke nicht mehr angemessen.) Man erinnert sich: In diesem Sinne fuhren Kanzler Kohl und US-Präsident Reagan 1985 nach Bitburg und – erst unter dem Druck der nationalen und internationalen Öffentlichkeit – dann auch nach Bergen-Belsen.

Auf einem außerparlamentarischen Bonner Forum im Herbst 1984 wude das Aide-mémoire abgeschmettert. Auch Bundesbauminister Schneider distanzierte sich. Er wies darauf hin, daß es sich bei dem geplanten Mahnmal um kein „herkömmliches Krieger-, Helden- oder Ehrenmal“ handeln könne. Hier gehe es um ein „Anliegen des ganzen Volkes“, was die Einbeziehung einer breiten und kritischen Öffentlichkeit wünschenswert mache. Eine Gruppe von Überlebenden und Hinterbliebenen des deutschen Widerstands, darunter Heinrich Albertz, Emmi und Walter Bonhoeffer, Helmut Gollwitzer, Helmut von Moltke und Inge Aicher-Scholl hielten ein solches Mahnmal für „nicht realisierbar, wenn zwischen Kriegsopfern und politischen Opfern etwa des Widerstands oder des Holocausts keine prinzipielle Unterscheidung getroffen wird“. Dem widersprach der damalige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Alfred Dregger, in der Bundestagsdebatte vom 25.3. 1986 mit dem Argument, man dürfe und könne „die Toten unseres Volkes nicht nach Spruchkammerkategorien in Gerechte und Ungerechte einteilen“ – und spielte damit zugleich geschickt auf ein zumindest in der älteren Generation noch verbreitetes Ressentiment gegenüber dem gescheiterten Versuch alliierter Entnazifizierung an. Und Minister Schneider – zuvor zurückhaltend und reflektiert – schlug in der parlamentarischen Debatte unbekümmerte, ja markige Töne an: „Der Mißbrauch nationaler Symbole und Traditionen zerstört nicht ihre geistig-sittliche Substanz. Die Tatsache, daß unsere Soldaten von einem Unrechtsregime in einem sinnlosen Krieg mißbraucht worden sind, mindert nicht unsere Dankbarkeit für ihr Pflichtgefühl und ihre Tapferkeit ... Die Geschwister Scholl, alle Toten des Krieges und Opfer der Gewaltherrschaft haben uns ein Testament hinterlassen. Darin ist uns aufgegeben, für den Triumph des Guten und Echten über das Böse und Falsche zu kämpfen, für eine friedliche Gemeinschaft mit allen Völkern der Erde.“

Während sich der Minister mit forscher Geste zum großen Vereinfacher aufschwang, waren andere zurückhaltender und sprachen vom „schier Unmöglichen“, auch Christdemokraten. Immerhin hätte man von anderswo lernen können, etwa aus der schwierigen Geschichte um das Washingtoner Vietnam-Denkmal – zwei in die Erde eingelassene je etwa 75 Meter lange schwarze Granitplatten in V-Stellung tragen die eingravierten Namen der 58.000 in Vietnam gefallenen amerikanischen Soldaten. Was die einen beeindruckte, empörte die anderen. „Das Ding ist schwarz, weil wir verloren haben“, – so ein Veteran. Zu ihrer und anderer Beschwichtigung kam später ein Gegen-Denkmal hinzu: eine realistische Skulptur – drei Soldaten im Kampfanzug.

Zweifellos ist die Realisierung der deutschen Denkmal-Aufgabe schwieriger, denn es soll ja nicht nur der eigenen toten Soldaten gedacht werden, sondern eben auch jener, die durch Deutsche getötet wurden, deutscher und nicht-deutscher Opfer. Vielleicht könnte man die Toten würdiger ehren, wenn man auf ein zentrales Denkmal verzichten würde, wie der Vertreter der Jüdischen Gemeinde in Bonn zu bedenken gab. Die Fraktion der Grünen forderte den Bundestag im Dezember 1985 auf zu beschließen: „Die Bundesrepublik Deutschland braucht überhaupt kein ,Nationales Mahnmal‘. Ausländische Staatsgäste, die in Bonn durch Kranzniederlegungen oder andere Gesten die Toten ehren wollen, werden – wie in den vergangenen 36 Jahren – Verständnis dafür haben, daß in der Bundesrepublik Deutschland die Errichtung eines nationalen Mahnmals an unlösbaren Problemen scheitert, nämlich der Gefahr einer Gleichsetzung im Tode von Tätern und Opfern der nationalsozialistischen

Verbrechen gegen die Menschheit ...Im Gedenken an die Toten muß in Deutschland zwischen Opfern und Tätern unterschieden werden“, – wobei in diese schon vereinfachte Unterscheidung die Opfer-Täter und Täter- Opfer selbstverständlich einzubeziehen sind – „Schuld darf auch mit dem Tode nicht aus der Erinnerung der Menschen verschwinden. In einem nationalen Mahn- und Ehrenmal ist dies nicht möglich und nicht zumutbar.“

Vielleicht nicht. Ob dieses nötig und möglich ist und wie eine solche nationale Gedenkstätte eventuell aussehen könnte, wäre wohl nur nach eingehender Debatte und großer künstlerischer Anstrengung zu entscheiden. Die Geschichte der neueren Mahnmale jedenfalls lehrt eines, so der Historiker Wolfgang Hardtwig: „Damit ein Werk gelingen kann, bedarf es eines klaren, eindeutigen Grundgedankens, eines intellektuellen und gestalterischen Freiraums für den Künstler – und Zeit.“ Diese vielleicht nicht einmal ausreichenden, aber gewiß notwendigen Voraussetzungen hat die Bundesregierung – ohne Not – mißachtet. Die „Neue Wache“ soll bereits am 14. November – mit einem Kostenaufwand von etwa einer Million Mark neugewendet – ihrer (alten) Bestimmung neu übergeben werden. Wie gegenwärtig aus dem Bonner Innenministerium verlautet, fehlt derweil Geld für Zuschüsse zu KZ- Gedenkstätten in den neuen Bundesländern, in denen umfangreiche Umgestaltungen angelaufen sind oder anstehen. Geld fehlt auch für die Gedenkstätte „Topographie des Terrors“ auf dem Prinz-Albrecht-Gelände sowie für das Berliner Holocaust-Denkmal – im Gegensatz zu den aufwendig geplanten Instandsetzungen des Berliner Olympia-Geländes von 1936. Wie wichtig es ist, sich für Konflikte Zeit zu nehmen, zeigt die Neugestaltung der Widerstands-Gedenkstätte in der Berliner Stauffenbergstraße, die mit Bedacht angegangen wurde.

Der Autor, Jahrgang 1942, ist Professor am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hamburg. Er veröffentlichte 1991 „Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus“ im Hanser Verlag (im Sommer als Taschenbuch bei Fischer) und arbeitet gegenwärtig an einem Buch über „Das kulturelle Gedächtnis der Deutschen nach 1945 – Der Schatten des Dritten Reiches“.