■ Was Gauck mit Demokratie zu tun hat
: Die Vergangenheitsfalle

„Um die politische Zukunft Manfred Stolpes braucht man sich vorerst keine Gedanken mehr zu machen – eher schon um die seiner schärfsten Kritiker“; so beginnt Matthias Geis' Debattenbeitrag auf der Meinungsseite vom letzten Samstag. Sein Bild von der vergangenheitsmüden ostdeutschen Gesellschaft und der Verengung der bürgerrechtlichen Perspektive scheint schlüssig – dennoch stimmt es nach keiner Seite. Es handelt sich um alles andere als eine Art Privatfehde zwischen dem brandenburgischen Ministerpräsidenten und einer Handvoll ehemaliger DDR-Oppositioneller.

Nein. Es geht um die politische Kultur des künftigen Deutschland und um die Frage, ob die Institutionen der Demokratie ihre Aufgabe wahrnehmen oder sich beliebig zurechtbiegen lassen. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß, der seine selbstgestellte Aufgabe flagrant verfehlt, muß sich in Frage stellen lassen, ebenso wie Teile einer Landesregierung, die als „AG Heiligenschein“ für den Landesvater fungieren.

Seit 1990 wird immer wieder der Unwille der ostdeutschen Bevölkerung beschworen, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Es waren jedoch Teile ebendieser Bevölkerung, die gegen erhebliche westdeutsche Widerstände den Zugang zu den Stasi-Akten erzwangen. Mit ihrem Hungerstreik in der Mielke-Zentrale wußten sich die BürgerrechtlerInnen vieler Sympathien sicher. Weder gesellschaftlicher Mord und Totschlag als Folge der Aktenöffnung noch die dauerhafte Fixierung auf das Stasi-Syndrom sind eingetreten. Im Gegenteil: Nach den ersten spektakulären Berichten über die Akteneinsicht Prominenter ist der Prozeß der hunderttausendfachen Auseinandersetzung mit diesem Teil der eigenen Geschichte so „normal“ weitergegangen, daß die Presse nur noch ab und an Notiz davon nimmt.

Ohne die Stasi-Akten ist die Arbeit der Enquetekommission zur DDR-Vergangenheit, der Arbeitsgruppen für Vereinigungs- und Regierungskriminalität sowie der zahlreichen Initiativen von unten nicht mehr vorstellbar. Längst sind der verästelte Machtapparat der SED selbst und die Gesamtinterpretation der DDR-Geschichte als Teil der deutschen und europäischen Nachkriegsentwicklung ins Zentrum der Aufarbeitung gerückt. Die Forderungen nach „Schluß der Debatte“ und die Enttäuschung über die fehlende Daueraufmerksamkeit gehen jedoch am tatsächlichen Prozeß vorbei. Es sind nicht die Stasi- und vergangenheitsbesessenen BürgerrechtlerInnen, die das Ende der Debatte verhindern. Und es ist nicht der sozial gebeutelte kleine Mann auf der Straße, welcher dies sehnlichst wünscht: Der politische Müllhaufen, den die zerfallene DDR hinterließ, ist so hoch, daß man einfach über ihn stolpe(r)n muß. Weder Stolpes samtene Cleverness noch Krauses Skandalaussitzerei werden ihren unrühmlichen Abtritt von der Bühne der politischen Macht verhindern können. Nicht deren Triumph steht zu befürchten, noch die Verweigerung „der Bevölkerung“, die meist tatsächlich andere Probleme am Hals hat.

Was die Vergangenheitsdiskussion so prekär macht und die Stimmen aus der Bürgerbewegung zuweilen schrill und isoliert erscheinen läßt, ist die Weigerung eines großen Teils der intellektuellen Klasse in West und Ost, hier ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Abwehr, Fluchtreflexe und der Verweis auf die wichtigeren positiven Aufgaben sind in allen Teilen des politischen Spektrums zu finden. Sosehr sich die Konservativen in ihrer verbalen Einigungs- und Verurteilungspolitik in Sachen DDR sonnen, so schwer fällt es ihnen, die politische Realkumpanei mit Gangsterbossen und Menschenhändlern vom Schlage eines Schalck-Golodkowski oder Vogel auch nur zuzugestehen. Die SPD kommt mit dem Umschreiben ihrer deutschlandpolitischen Umwege und Winkelzüge kaum noch nach, auch hier ist es nur eine Minderheit, die für Realismus und kritische Auseinandersetzung steht.

Für die Verdrängung der Parteien lassen sich ja noch Erklärungsmuster anbieten. Was aber treibt Intellektuelle, die stolz auf ihre Unabhängigkeit sind, zu vergleichbaren Haltungen? Ein Großteil der Salonlinken und EdeldemokratInnen wirkt förmlich angewidert ob der unappetitlichen Reste des einstigen Hoffnungsmodells. Auch wenn es nicht der reale, sondern nur der ideale Sozialismus war, dem die Hoffnungen galten – es könnte ja noch nachträglich an die eigene Identität und Selbstvergewisserung gehen. Die fundamentalen Gegensätze zwischen organisierter Rechtlosigkeit in der DDR und den Defiziten einer immerhin vorhandenen Demokratie in der Bundesrepublik werden nach wie vor kleingeredet und das Beharren auf der Differenz als Rechthaberei empfunden. Aus dieser Optik ist die ganze Vergangenheitsaufarbeitung bestenfalls eine Art lästiger Friedhofsarbeit und nicht etwa Teil der aktuellen Entscheidungen. Als zwischen Grünen- und Bündnis-90- Vertretern jüngst die Verabredung stand, einen Redner in Sachen Demokratisierung zu nominieren, schlug die bürgerbewegte Seite Joachim Gauck vor. Was der denn mit Demokratie zu tun habe, fragte daraufhin ein Grüner erstaunt.

Es gibt eine frappierende Differenz zwischen der politischen und intellektuellen Inanspruchnahme bürgerbewegter Traditionen seit 1989 und der Bereitschaft, sich weiter auf sie einzulassen, wenn die Luft dünner geworden ist. Dialogbereitschaft und die Kultur der Runden Tische werden eine wichtige Erfahrung des Umbruchs von 89/90 bleiben, aber sie dürfen den AkteurInnen nicht die Augen vor der eigenen Naivität verschließen. Wer damals Dialog und Runder Tisch sagte und wirklich meinte, wer sich aber des friedfertigen Gegenübers bediente, um Millionen und Abermillionen in Sicherheit zu bringen, Altlasten zu decken, sich das eine oder andere brisante Archiv unter den Nagel zu reißen, harrt auch noch der Aufarbeitung.

Die vermeintliche „neue Unerbittlichkeit“ ist auch durch die Erfahrung geprägt, wie schnell man zum nützlichen Idioten für Wendestrategen und Konjunkturritter zu werden droht. In diesem Sinne geht es nicht um den Nimbus der Bürgerbewegten, den sie verspielen könnten, sondern um ihre Hartnäckigkeit – auch der Resignation der eigenen Freunde standzuhalten. Wolfgang Templin

ehem. Bürgerrechtler, Bündnis 90