■ Die Stahlindustrie kündigt zum 1.4. die Ost-Tarifverträge
: Höchste Alarmstufe

Der Paukenschlag der Stahl-Arbeitgeber hätte nicht donnernder sein können: einen Tag vor Beginn des Arbeitskampfes in der ostdeutschen Metallindustrie, einen Tag auch bevor in ihrem Bereich die ostdeutschen Löhne von 71 auf 82 Prozent des Westniveaus hätten angehoben werden müssen, demonstrieren sie Unternehmersolidarität. Der Konflikt um die Lohnpolitik in Ostdeutschland weitet sich aus, und er wird immer mehr zum Grundsatzkonflikt um die Bindungskraft des Tarifvertragssystems in der Bundesrepublik. Weil hier Grundsätzliches berührt wird, ist ein schnelles Ende des heute beginnenden Arbeitskampfes nicht zu erwarten.

Die Positionen sind klar und liegen unvereinbar weit auseinander: Die Arbeitgeber nehmen für ihre tarifvertragswidrige Kündigung eine Art übergesetzlichen Notstand in Anspruch; die Betriebe in Ostdeutschland seien aufgrund der Krisenentwicklung einfach nicht in der Lage, die anstehende Stufe der Lohnanpassung zu verkraften. Insofern sei die Geschäftsgrundlage bei Abschluß des Vertrages 1991 entfallen. Die IG Metall pocht auf Vertragstreue und hält den Arbeitgebern vor, sie hätten seinerzeit sehr wohl von den kommenden Problemen gewußt.

Natürlich können viele ostdeutsche Betriebe die Lohnerhöhung nicht aus eigenen Erlösen bezahlen, so wie sie auch die bisherigen Löhne schon nicht zahlen konnten. Dies gilt übrigens für alle industriellen Branchen. Und so haben es die Tarifvertragsparteien 1991 vorausgesehen. Ostdeutsche Löhne sind von vornherein politische Löhne gewesen, die den Erwartungen der Menschen auf eine schnelle Verbesserung ihrer Lebenssituation ebenso entgegenkamen wie dem Interesse der Betriebe, die für einen künftigen Aufschwung unabdingbar notwendige fachliche Kompetenz im Osten zu halten. Sie waren und sind ein Vorgriff auf künftige Produktivität. Die problematische und teure Überbrückungszeit, auch das war damals klar, geht zu Lasten der Treuhand, also des Steuerzahlers bzw. der übernehmenden, meist zahlungsfähigen westlichen Investoren.

Wenn jetzt von den Arbeitgebern plötzlich die Produktivität zum Maßstab der Lohnfindung im Osten gemacht wird, verlassen sie ganz eindeutig nach Buchstaben und Geist die Geschäftsgrundlage der Tarifvereinbarung von 1991. Mag sein, daß dies unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten von vornherein ein Sündenfall gewesen ist, der an den Grundfesten des erfolgreichen Exportmodells Deutschland rüttelt. Aber es ist mindestens genauso gefährlich, mit dem Bruch von abgeschlossenen und unterschriebenen Tarifverträgen ein erfolgreiches System sozialer Konfliktregelung, die Tarifautonomie, auszuhöhlen. Wenn das Schule macht, heißt das höchste Alarmstufe für die abhängig Beschäftigten in ganz Deutschland. Martin Kempe