■ Die RAF und ihre Kritiker entdecken die Debatte
: Vom Ghetto in die Gesellschaft?

Die Aktivisten der Rote Armee Fraktion nähern sich in frappierendem Tempo zwar nicht der gesellschaftlichen Mitte, so doch der linksradikalen Befindlichkeit in diesem Lande. Die gestern nachgeschobene Wortmeldung zum großen Knall von Weiterstadt läßt daran keinen Zweifel mehr. Als die Gefangenen der RAF Anfang 1989 anläßlich ihres zehnten Hungerstreiks erstmals den Anspruch erhoben, „an der gesamten politischen Diskussion“ teilzunehmen, nahm das so recht niemand ernst. Denn allzu lange blieb es bei der Ankündigung, weil die Gefangenen untereinander weiter isoliert gehalten wurden, gleichzeitig aber darauf beharrten, nur als „Kollektiv“ nach außen in Erscheinung zu treten. Das ist Geschichte. Während der Privatkrieg der RAF gegen den Staat beginnt, zivilere (nicht zivile) Formen anzunehmen, tobt untereinander der Krieg der Erklärungen und Briefe. Absender einer Flut von Schreiben sind nicht nur die Gefangenen, Absender sind Dutzende von Gruppen und Grüppchen, die sich als linksradikal verstehen. Und Absender ist immer häufiger die RAF selbst. Ausgelöst hat diesen großen Schritt aus der Isolation und Weltfremdheit zweifellos die beißende Kritik der Linken an den blutigen Attentaten der einst beinahe vergötterten RAF-Aktivisten.

Im gestrigen Bekennerschreiben arbeiten die Autoren Punkt für Punkt die nach ihren Deeskalationserklärungen des vergangenen Jahres von links erhobenen Vorwürfe ab. Das wichtigste: Sie ordnen sich selbst – frisch geadelt durch den perfekten Anschlag von Weiterstadt – selbstbewußt jenen Positionen zu, die in der linken Debatte unter Reformismus-Verdacht stehen. Die RAF-Aktiven sympathisieren ganz offensichtlich mit den Überlegungen des Celler Gefangenen Lutz Taufer, der kürzlich unter dem programmatischen Titel „Gesellschaft oder Ghetto“ die Rückkehr ins Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung empfohlen hatte. Was kann der Staat aus all dem lernen? Zunächst muß er sich eingestehen, daß die linksinterne Kritik möglicherweise die partielle Reintegration der RAF-Kämpfer erfolgreicher betreibt als ein bis an die Zähne bewaffneter und dennoch zahnloser Fahndungsapparat. Als konvertierte Sozialdemokraten allerdings sind weder die RAF- Aktivisten noch ihre Anhänger zu haben. Die Politik muß sich fragen, ob eine Gesellschaft, die sich demokratisch nennt, fundamentale Kritik und Opposition ertragen will und kann. Wenn diese Frage politisch bejaht ist, wird auch eine Lösung für die Langzeit-Gefangenen der RAF möglich sein. Gerd Rosenkranz