Haiti: Die Ruhe vor dem Sturm?

Eindrücke aus dem Innenleben einer gedemütigten Gesellschaft/ Ein Funken genügt, um die explosive Lage auf Haiti in Brand zu stecken – wenn die USA weiter untätig bleiben  ■ Von Hans Christoph Buch

„Dies ist ein Tag der Schande und der Erniedrigung“, sagte im Radio der Sprecher der Duvalieristen – jener Dinosaurier der Diktatur, die mit Zähnen und Klauen die Herstellung demokratischer Verhältnisse in Haiti zu verhindern suchen – vor zwei Wochen nach dem Empfang von Jean-Bertrand Aristide durch Bill Clinton im Weißen Haus. Damit meinte er nicht nur die amerikanische Ankündigung, eine hochrangige Delegation nach Port-au-Prince zu entsenden, um durch Verschärfung des wirtschaftlichen und politischen Drucks für die Rückkehr des demokratisch gewählten Präsidenten Aristide zu sorgen. Die Militärmachthaber Haitis hatten an diesem Tag vor der eigenen Bevölkerung das Gesicht verloren, als das US-Außenministerium sie dazu zwang, einen kurz zuvor verhafteten Oppositionellen freizulassen, der am Flughafen festgenommen worden war, als er versuchte, unter dem Schutz der US-Botschaft das Land zu verlassen – angeblich handelte es sich um einen Deserteur.

Nachdem sie selbst jahrzehntelang den Ausverkauf nationaler Interessen betrieben haben, beschimpfen die Duvalieristen Aristide heute als Erfüllungsgehilfen Washingtons, während die bürgerliche Mitte um den vom Militär ernannten Premier Marc Bazin ihm Anti-Amerikanismus und Liebäugeln mit Gewalt vorhält. Dieser Vorwurf ignoriert den Unterschied zwischen vereinzelten Menschenrechtsverletzungen, wie es sie auch unter Aristide gegeben hat, und dem furchtbaren Massaker, das die mit den Duvalieristen verbündete Armee nach dessen Sturz in Haiti Ende September 1991 angerichtet hat.

Neue Hoffnungen aus dem Weißen Haus

Seit dem Untergang des Fährschiffes „Neptune“ im Februar, bei dem fast 2.000 Menschen ums Leben kamen, weigern sich die Haitianer, Fisch zu essen. Noch Tage nach der Katastrophe wurden von Haien angefressene Leichen auf die Strände gespült, die in Plastikfolien verschnürt am Hafen von Port-au-Prince aufgestapelt wurden. Obwohl Schiffe, Lastwagen und Busse in Haiti stets hoffnungslos überladen und schwere Unfälle keine Seltenheit sind, wird die Militärregierung vom Volk für das Desaster verantwortlich gemacht, dessen Opfer ohne Benachrichtigung der Angehörigen in anonymen Massengräbern verscharrt worden sind. Die Trauermesse am 25. Februar in der Kathedrale von Port-au-Prince geriet zur politischen Demonstration, bei der Willy Romélus, der Bischof von Jérémie, ein enger Freund des Befreiungstheologen Aristide, von Polizisten in Zivil attackiert und mißhandelt wurde, als er die Gefühle der Hinterbliebenen zum Ausdruck brachte.

Vor diesem düsteren Hintergrund hat der Empfang des haitianischen Präsidenten im Weißen Haus neue Hoffnungen geweckt. Das vom Fernsehen nach Haiti übertragene Bild vom Tête-à-tête Bill Clintons mit Pater Aristide, dessen Eintreten für Rechtsstaat und Demokratie der US-Präsident mit Beifall bedachte, hat hier in kürzester Zeit politisch mehr bewegt als das achtzehn Monate währende Handelsembargo der USA, das eher kontraproduktiv gewirkt hat. Leidtragend war die Mehrheit der armen Bevölkerung, während die mit den Militärs liierte, korrupte Oberschicht vom Embargo profitiert hat: Die Preise für Grundnahrungsmittel sind auf astronomische Höhen gestiegen, und der Wert der Landeswährung Gourde ist auf einen absoluten Tiefstand gefallen. Wasser und Strom sind Mangelwaren geworden, während die Versorgung der Armee mit Treibstoff zu keinem Zeitpunkt gefährdet war. Werkstätten und kleine Betriebe müssen ihre Angestellten entlassen, die Arbeitslosigkeit hat ein nie gekanntes Ausmaß erreicht, und als Folge des Embargos sind die ärmsten Haitianer noch ärmer und die reichsten noch reicher geworden. Die Hauptstadt Port-au-Prince liegt nachts in tiefer Dunkelheit, nur in den Luxusvillen und internationalen Hotels des Nobelvororts Pétionville brennt Licht, und im Schatten des Blackouts begehen gewöhnliche und politische Verbrecher Raubüberfälle und Morde, während das Militärregime den von ihm gestürzten Präsidenten für das Elend verantwortlich macht.

Dessen Propaganda geht hier niemand auf den Leim, im Gegenteil, die Unzufriedenheit wächst in allen Bevölkerungsschichten, und wenn morgen in Haiti freie Wahlen stattfänden, würde Aristide, der während seiner Amtszeit weit weniger beliebt war als heute, diese haushoch gewinnen. „Das Volk kann nicht leben mit einer Armee, die aus Dieben, Mördern, Folterern und Vergewaltigern besteht“, sagte mir ein junger Mann im Süden des Landes, wo die Schüler in den Streik getreten sind und offen für die Rückkehr von Aristide demonstrieren. Um das Übergreifen der Unruhen auf die Hauptstadt zu verhindern, hat die Regierung als Studenten getarnte Spitzel und bezahlte Schläger in die Universität eingeschleust, die jeden Protest im Keim ersticken: Studienbescheinigungen und Zeugnisse werden nicht mehr ausgestellt, Examen nicht anerkannt; als auch das nichts nutzte, wurden alle Hochschulen auf unbestimmte Zeit geschlossen.

Wenn ein Soldat mit seiner MP das Feuer eröffnet ...

In Haiti herrscht Ruhe vor einem politischen Orkan, dessen Zerstörungskraft die des Wirbelsturms, der kürzlich über die Karibik hinwegfegte, noch übertreffen wird. Die Soldaten der haitianischen Armee, die, mit entsicherten MPs herumfuchtelnd, den Kofferraum meines Autos durchwühlten, waren genauso nervös wie die Zuschauer, die auf die Schikanen der Militärs mit gereizten Zurufen reagierten. Es genügt, daß einer von ihnen ausrastet und das Feuer auf eine friedliche Menschenansammlung eröffnet, um eine Kettenreaktion auszulösen, die zum Bürgerkrieg eskalieren kann. Die Geduld der Haitianer ist erschöpft. Zwar haben sie keine Waffen, aber eine Armee von 6.000 schlecht ausgebildeten und miserabel ausgerüsteten Soldaten kann nicht auf Dauer sechseinhalb Millionen Menschen in Schach halten, die außer ihrem Leben nichts zu verlieren haben. Der einzige, der die politische und moralische Autorität besitzt, ein Blutbad in Haiti zu verhindern, ist Pater Aristide.

Seine Rückkehr wird nicht allein durch die Obstruktion der Militärs erschwert und durch die Machtgier der von diesen ausgehaltenen zivilen Politiker, die inzwischen ihren letzten Kredit verspielt haben, sondern auch durch die Halbherzigkeit des US-Außenministeriums. Die Rückkehr Haitis zur Demokratie läßt sich nicht durch gute Worte bewerkstelligen, die nur der Beruhigung der durch die Tragödie der Boat people geschockten amerikanischen Öffentlichkeit dienen.

Die Entsendung eines Flottenverbands in die Bucht von Port-au- Prince würde genügen, um die mit Drogengangstern liierte Armee aus dem Präsidentenpalast zu jagen. Eine Demonstration militärischer Präsenz wäre billiger für die Vereinigten Staaten und weniger schmerzvoll für die haitianische Bevölkerung als die Fortsetzung eines Embargos, das auch in Zukunft kaum Wirkung zeigen wird.