: Jetzt kommt die Kritik der Kritikkritik
■ Eine Reaktion auf Harry Nutts Artikel zur „publizistischen Lichterkette“ bei der aktuellen Fernsehgewalt-Diskussion
„Es wäre ein anderes Mal darüber zu reden, daß das Fernsehen bei weitem nicht so schlecht ist wie das Gewerbe, das sich wortreich mit ihm befaßt, aber den Namen Kritik kaum verdient.“ Das Fernsehen hat sicher eine qualifizierte Kritik verdient, aber so einfach wie es sich Harry Nutt mit seiner Kritik der Fernsehkritik in der Ausgabe der taz vom 26.März macht, ist es leider auch wieder nicht. Zum aktuellen Phänomen „Reality TV“ und den Forderungen einiger Kritiker nach einer dirigistischen TV- Kontrolle machte sich der Autor durchaus überzeugende Gedanken. Doch leider mochte er seinen Zorn über die „publizistische Lichterkette in Sachen Fernsehkritik“ nicht produktiv nutzen, sondern warf alles in einen Topf – für eine Schelte jener Menschen, die er einmal als „allgemeine Fernsehkritik“, dann als „kulturkonservative Kritik, als Fernsehkritik getarnt“ bezeichnete. Doch die Kostproben solcher Autoren, die gleich hinter jeder Einstellung den Verfall kultureller Werte wittern, brachten dann Namen, die ich mit der Eigenschaft Fernsehkritiker nicht unbedingt zusammengebracht hätte: Botho Strauß, die Sat.1- Talk-Show „Talk im Turm“ und den „Tagesthemen“-Moderator Ulrich Wickert. Einzig der Tagesspiegel-Journalist Ulrich Schulze und die Wochenpost-Kollegin Christiane Grefe blieben dann als Kronzeugen übrig für eine Front von Kritikern, die nach der ordnenden Hand des Gesetzes rufen.
Mir geht es nicht um eine Replik auf Nutts Thesen von einer larmoyanten, fast kulturpessimistischen Kritiker-Clique gegenüber ihrem Gegenstand, sondern um eine Präzisierung. Denn auch mir fielen beim Nachdenken über die Gewaltdebatte zunächst jene erwähnten Artikel in Wochenpost und Zeit ein, die nicht von ausgewiesenen Fernsehkritikern verfaßt wurden, sondern von Journalisten, die sich von Fall zu Fall einen kritischen Blick auf das Medium gestatten. Warum hinterläßt die tägliche Fernsehseite der Tageszeitungen eine Leerstelle, wenn es um die Diskussion über Gewaltdarstellungen im Fernsehen geht?
I.
Die fehlende Präsenz der Fernsehkritik innerhalb der Gewaltdebatte resultiert aus ihrem Status. In jungen Jahren der Fernsehgeschichte als ein Service belächelt, der über etwas berichtet, das im Geruch stand, dumm oder lethargisch zu machen, konnte sich die Fernsehkritik im angestammten Feuilleton nie so recht durchsetzen. Fernsehkritiker waren immer nur verhinderte Filmkritiker, ihr Gegenstand ein Forum von Öffentlichkeit, die man unter der Rubrik Freizeit, niemals aber unter den Fittichen der Hochkultur zulassen wollte. Bis die Chefredaktionen merkten, daß mit der Kritik des Fernsehens auch eine Kritik des Kommunikationsprozesses und seiner ökonomischen Strukturen verbunden ist, war der Zug der Privatisierung des Fernsehens längst abgefahren.
Ausnahmen wie die Süddeutsche bestätigen da nur die Regel. Die fehlende Entwicklung des Genres ist noch heute daran abzulesen, daß größere publizistische Ergüsse über das Medium auf Sonderseiten oder im Wirtschaftsteil abgewickelt werden, weil man den Fernsehkritikern nicht zutraut, die immer komplexer werdende Verflechtung der Medienkonzerne zu durchschauen.
Daß sie daneben eine wache Schar von Solisten entwickelt hat, die aus Enzensbergers oder Negt/ Kluges Theorien gelernt hat und die von Harry Nutt geforderte „kompetente Auseinandersetzung“ mit den Inhalten des Mediums Fernsehen schon länger praktiziert, scheint in der Öffentlichkeit untergegangen zu sein. Das ist wohl den anhaltenden Auswirkungen jener Arroganz gegenüber der Fernsehkritik zuzuschreiben. Anders ist es nicht zu erklären, warum nicht wahrgenommen wurde, daß die Debatte über die Grenzen des Fernsehens kompetent und ausführlich geführt wurde, lange bevor Christiane Grefe zu ihrem Aufschrei über den „TV-Gau“ Luft holte. Wahrscheinlich liegt es auch daran, daß viele Fernsehkritiker die Diskussion mit mehr Bedacht und ohne die schrillen Übertreibungen führen als die nun immer lauter werdenden Stimmen einer neuen Medienprüderie. Markige Sprüche, das wissen die Gewaltkritiker genauso gut wie die von ihnen beschimpften Reality- TV-Redaktionen, kommen eben besser an und dringen eher durch. Dagegen haben Kollegen wie Tilman P. Gangloff oder Achim Baum das Phänomen der neuen Fernsehwirklichkeit ebenso kritisch, aber ohne moralischen Unterton beschrieben – für so etwas findet sich häufig nur Platz in den Fachblättern wie epd – Kirche und Rundfunk. Ihre Herangehensweise ist sachlicher – mit dem nötigen Respekt vor der nicht zu unterschätzenden Wirkung, aber auch der Erkenntnis, daß ausgiebige Nutzung des Flimmerkastens nicht sofort mit völliger Hingabe und Sucht-Symptomen gleichzusetzen ist.
II.
Es scheint an der Zeit, jenen Kritikern in die Parade zu fahren, die schon in Hysterie ausbrechen, wenn das Wort Fernsehen und Gewalt fällt. Im Augenblick erleben wir eine unreflektierte Wiedergeburt jenes Zweiges der Wirkungsforschung, der dem Fernsehzuschauer lediglich zutraut, die Flut der Bilder vollkommen passiv über sich ergehen zu lassen. Ob die Nachahmungsthese, die von einer Stimulation der Gewaltbereitschaft ausgeht, oder die Katharsistheorie, die dem Betrachter beim Anblick blutiger Szenen ein Abreagieren und damit die Verarbeitung des Gesehenen zutraut, diese Erklärungsversuche reduzieren die Rezeption auf ein willenloses Ausgeliefertsein. Wer so wie Christiane Grefe die Gefahren des Fernsehens beschwört, das „in der Leistungsgesellschaft mit ständig sinkenden Reiz- und Ekelschwellen die Vielseher Kinder, Jugendliche, Arbeitslose, Alte ruhigstellt“, ist natürlich über jede wissenschaftliche Schützenhilfe erfreut. In dem Medienpsychologen Jo Groebel haben die neuen Apologeten der Droge Fernsehen einen Bundesgenossen gefunden. Groebel läßt die Erbsenzählerei der Fernsehtoten wiederaufleben und versucht, mit einer etwas differenzierteren Version der Nachahmungsthese, die dem Rezeptionsverhalten immerhin ein ganzes Bündel verschiedener Ursachen zugesteht, darüber hinwegzutäuschen, daß hier die alte Mär vom manipulativen und schädlichen Charakter des Fernsehens aufgetischt wird.
Dabei war die Wissenschaft doch schon mal wesentlich weiter. Es fehlt hier der Raum, um die einzelnen Forschungsansätze darzulegen. Doch wer sich als Medienkritiker der Kritik der Medien hingibt, sollte die Theorie der kognitiven Dissonanz kennen, die davon ausgeht, daß Informationen, die der eigenen Einstellung widersprechen, als unangenehm empfunden – und zum Zwecke der Harmonisierung vermieden werden. Der „Uses and Gratifications“- oder „Nutzenansatz“ schließlich sieht die selektive Mediennutzung als bewußten Vorgang, der von persönlichen und situationsabhängigen Faktoren bestimmt ist. Wer blind gegenüber dem Forschungshorizont nur auf die populären und griffigen Thesen eines Jo Groebel zurückgreift, unternimmt dasselbe, was er dem Fernsehen vorwirft – eine grobe Vereinfachung. Es ist an der Zeit, endlich davon wegzukommen, sofort eine schädliche Wirkung auf den Zuschauer zu vermuten, nur weil mehr Mord und Totschlag, kombiniert mit austauschbarem Talk-Show- Schwachsinn, über den Bildschirm flimmert. Das soll nicht heißen, daß damit das Medium generell als harmlos anzusehen ist. Der Zustand des Fernsehens läßt sich jedoch kaum beschreiben, wenn man es erneut zum Buhmann macht und dann sogleich mit dem reglementarischen Knüppel zum Schweigen bringen will. Spannender ist doch allemal die Frage, warum der Mensch im Fernsehsessel zum Genuß des Trivialen neigt.
Das Absurde an der derzeitigen Debatte scheint mir, wie urplötzlich der Apparat zu jenem hohen Anspruch verpflichtet werden soll, den er niemals eingelöst hat. Christiane Grefe spricht vom Verschwinden einer gemeinsamen Öffentlichkeit, und die öffentlich- rechtlichen Intendanten werden nicht müde, nun ihren Urauftrag der politischen Willensbildung zu betonen, den sie gleichzeitig, doch so schamlos zugunsten einer Reality-Anpassung aushöhlen. Das Fernsehen war niemals so gut und ist heute nicht so schlecht, wie es dargestellt wird. Schon zu den rosigen Zeiten straßenfegender Durbridge-Krimis gab es gnadenlos dumme Programme. Oder möchte jemand behaupten, daß man den „Blauen Bock“ als sinnstiftendes Gemeinschaftserlebnis höher bewerten sollte als Hella von Sinnens Sirenengeschrei? Die Auffüllung der Programme mit debiler Kommerzware mag ihren höchsten Sättigungsgrad erreicht haben, doch besteht nach wie vor die Chance, neben all dem Trivialen auch die eine oder andere Wahrheit aufzuschnappen. Das ist vom emanzipativem Gebrauch des Mediums zwar noch immer meilenweit entfernt, aber etwas anderes als die permanente Beschwörung des Geschmacklosigkeits-Gau. Ein diffuser Katzenjammer über die Schlechtigkeit schlechthin scheint jedoch wieder zum guten Ton zu gehören. Aber wohin führt die Warnung vor der Brutalisierung? Sollte die deutsche Krämerseele tatsächlich an der Blutwelle aus allen Kanälen ersticken, würde auch eine Kontrolle an diesem Niveau wenig ändern. Ein Medien-TÜV macht noch lange kein besseres Programm. Christof Boy
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen