Wo die Lebenden die Toten beneiden

Blechhütten und Marmorgräber am Rande von Lissabon/ Portugals Regierung will die städtischen Slums abreißen und ihre Bewohner umsiedeln – und kennt die Bewohner nicht  ■ Aus Lissabon Theo Pischke

Friedhöfe sind oft schöner als Wohnviertel. Der „Cemitério dos Prazeres“ in Lissabon ist ein schöner Friedhof. Direkt vor seinem Eingangstor ist die Endstation der Straßenbahnlinie 28. Hinter dem Eingangstor eine kleine Stadt weißer Häuschen aus Sandstein und Marmor: Familiengrabmale.

In ihnen bestatten wohlhabende Portugiesen ihre Toten. Mit Holz verkleidete Zinksärge stehen darin auf einem Gestell. Durch die Gardine vor der gläsernen Eingangstür kann man sie ansehen. Wenn die Mittagssonne den weißen Stein in gleißendes Licht taucht, ist es auf dem Friedhof so hell, daß die Augen blinzeln müssen.

Der Cemitério dos Prazeres liegt auf einem Hügel. Am Fuße des Hügels zieht sich die Avenida de Ceuta dahin, daneben eine Eisenbahnlinie. An den Hang geklatscht ein Wohnviertel: keine schönen Häuschen, sondern Baracken aus Blech und Holz. Casal Ventoso heißt dieses bairro de lata, dieses „Blechviertel“. Auf einem ausgetretenen Lehmpfad meckert eine Ziege, Hühner gackern, eine kaputte Kinderpuppe liegt mit dem Gesicht nach unten im Dreck.

Neben dem Bahngleis hockt ein vielleicht 18jähriger Junge, den linken Arm von sich weg nach unten gestreckt und die Faust geballt. In der Armbeuge steckt eine Heroinspritze. Wer in Lissabon mit Drogen handelt oder Drogen benutzt, kommt hierher, nach Casal Ventoso. Fremde fallen gleich auf. „Was machst du hier?“ fragt ein Mädchen abweisend. Polizei traut sich nur selten in den windschiefen Wirrwarr. Die Avenida de Ceuta ist die Grenzlinie.

Wer hier haust, hat kaum noch etwas zu verlieren. Nach Angaben der Regierung gibt es in Portugal fast 21.000 Baracken, über 13.000 allein in Lissabon. Das Geld, das aus dem EG-Sozialfonds nach Portugal fließt, hat daran nichts geändert. Nun will die Regierung damit Schluß machen: Unter der Parole „Portugal auf das 21. Jahrhundert vorbereiten“ hat Ministerpräsident Anibal Cavaco Silva ein Wohnungsprogramm angekündigt. In spätestens sechs Jahren sollen die Baracken verschwunden sein und ihre Bewohner in festen Häusern leben. Drei Milliarden Mark sollen dafür ausgegeben werden.

„Grundsätzlich positiv“, lobt der Chef der oppositionellen Sozialisten, António Guterres, kritisiert aber: „Erst acht Jahre nach seinem Amtsantritt hat Cavaco Silva den Ernst des Wohnungsproblems erkannt.“ In der Tat: Seit Anfang der achtziger Jahre ist die Zahl der Baracken kaum gesunken. Seit 1983 landesweit um lediglich 4.000. In Porto, der zweitgrößten Stadt des Landes, sind die bairros de lata gar größer geworden, weiter gewuchert. Kritik kommt nicht nur von der politischen Opposition: „Das Programm ist unzureichend. Die Kosten für neue Wohnungen sind viel höher als von der Regierung kalkuliert“, heißt es in einer Stellungnahme der Caritas. Unter dem Eindruck ihrer abnehmenden Popularität hat die Regierung ihren Plan mit heißer Nadel gestrickt. Jetzt werden Planungsmängel deutlich: So weiß niemand genau, wie viele Menschen in den Barackenvierteln leben. Die Regierung verlangt von den betroffenen Städten erst einmal eine genaue Zählung der Baracken-Bevölkerung. Deren Interesse ist jedoch nicht sehr groß. Viele von ihnen sind Einwanderer aus den alten portugiesischen Kolonien in Afrika, und viele von ihnen leben illegal im einstigen „Mutterland“. Sie haben keine feste Arbeit und auch keine Aufenthaltserlaubnis. Seit Inkrafttreten des neuen Ausländergesetzes am 8. März müssen sie ihre Ausweisung befürchten.

„Wer garantiert uns, daß die Bevölkerungsdaten nicht in die Hände des für die Ausweisung zuständigen Innenministeriums fallen?“ fragt die Zeitung Público. Entdeckte „Illegale“ werden nämlich dem neuen Gesetz zufolge in Sammellagern untergebracht und dann abgeschoben. Vom Elendsviertel nach Afrika – keine hoffnungsvolle Perspektive.