Heimkehr in die Nische?

Weststudium, Ostwohnung — ein Folkgesang nach Motiven der Legende vom verlorenen Sohn  ■ Von Marko Martin

Ja, es ist komisch und längst kein Einzelfall mehr. Eine Heimkehr, die keine Heimkehr ist und erst recht keine sein soll: Studium im Westen, Wohnung im Osten, aus dem man doch erst vor vier Jahren Hals (zugedrückt) über Kopf (kühl) abgehauen ist.

Und was mit der Vergangenheit zusammenhängt, wirkt heute noch, so daß alle, die es nicht verhindern konnten, mit einem zu tun zu bekommen, mit der gleichen message gelangweilt werden: Osten, Westen, Osten und (bitte noch zuhören!) wieder Osten; natürlich nur zeitweilig und aus Geldgründen. Weil alle Wessis doch die reinen Materialisten aus dem StaBü- Lehrbuch sind. So tut man was fürs Klischee und genießt die Abgrenzung.

Aber ist die denn noch nötig? Die Normannenstraße beispielsweise ist doch längst nicht mehr die Normannenstraße von früher. So säuselt versöhnlich der Geist der Geschichte – um gleich beleidigt zu sein, wenn ich vor mich hin parliere: Aber die Leute, lieber Geist, die Leute sind doch noch da! Und fieserweise meine ich gar nicht die haupt- und nebenamtlichen Spitzel, die braven Mitbürger in der Straßenbahn frühmorgens reichen schon aus.

Schon ist meine Rede ein Monolog, und böse Worte purzeln durch den leeren Raum: Kretins, Spießer – und ungepflegte dazu –, Selbsthaß der Mitläufer. Und schließlich der Satz im Kopf: eins in die Fresse, damit die endlich mal lächeln.

Wiederauftritt Geschichtsgeist, diesmal hämisch: warum lächeln, wenn sie Mitläufer waren? Und was hätten die alle in deinem Westen („deinem“ Westen?) gemacht? Altes Großmaul.

Hätten, hätten – häßliches Wort. Und schon sitze ich auch ganz zerknirscht im knatternden Ikarus-Bus. Schon habe auch ich meinen Einkaufsbeutel wieder mit rechtem Schlenker um mein Handgelenk gewickelt und trotte der Kaufhalle zu, die doch jetzt Supermarkt heißt. So schnell färbt das also ab, und im angeschmuddelten Ladenfenster spiegelt sich ein bereits beängstigend angegrautes Gesicht. Was tun?

Dumme Frage: Wir knabbern noch heute daran, daß sie einstens von einem Russen so furchtbar leicht beantwortet wurde. Dann lieber in die Disco tanzen gehen, anstatt in die Zukunft zu marschieren. Aber auch unter Lichtorgeln und Schlagerrhythmen wabert und west die Vergangenheit. Und trotzdem: Da lasse ich mich zur Abwechslung mal gern reinfallen. Tatsächlich: Lichtorgeln und Schlagermusik. Gelobte, versteckte, unglaubliche Discothek im deutschen Osten: Wie rührend bist du anzuschauen! Keine Angst, meinen Zynismus ließ ich längst draußen vor der Tür. Plötzlich begegne ich Dingen wieder, vor denen mir nicht graut. Hosianna: Bonnie Tyler, Boney M, OMD, die Smokies (sagte man so im Osten? d. Red.), all die lieben Leichen aus dem Kassettendeck – hier in Ostberlin dürfen sie wieder lebendig werden. Toll. Gepriesene Soljanka für 2,99 DM, um deinetwillen lief ich mir am Savignyplatz erfolglos und hungrig die Hacken ab. Grüß dich, Tonic: Zwar sprechen sie dich hier immer noch mit langgezogenem „o“ aus, dafür bekomme ich dich um so vieles billiger als im Westen.

Denn ein schnöder Tanz-Tempel ist dieser Ort mitnichten, man trifft hier viel mehr Pärchen als krampfhaft um distanzierte Anmachmiene bemühte Single-Typen. Bin ich also schon jetzt zum Judas am westlichen Individualismus geworden? Schleime ich mich um Wiederaufnahme in die Stammesgemeinschaft ein?

Kaum. Auch wenn Menschen- Biographien das einzig Bewahrenswerte an dieser Dämlich- DDR (die Wut kocht also noch) sind – und oftmals sogar interessanter als die im Westen –, kann mich doch niemand zwingen, angesichts ihrer beibehaltenen Accessoires vor erotischer Hingabe zu zerfließen: Pardon, aber die meisten jungen Frauen sehen hier immer noch so aus, als hätten sie sich gerade für eine DFD- oder FDGB- Feier schick gemacht, mit ihren Pullovern, Lippenstiften und Schmuckgehängen aus dem Fundus der Derrièrgarde.

Und langsenklige Turnschuhe vom allerletzten Turnfest des DTSB, Schnee-Jeans mit protzigen Gürtelschnallen, gigantische Armbanduhrgehäuse aus dem Vaterland der Werktätigen und Hemdkragen, die noch immer brav über den Sweatshirt-Ausschnitt gestülpt sind, bauen auf ihre Weise auch Mauern des freiwilligen Triebverzichts. Dennoch, da hilft keine angelernte Krittelei, isses gemütlich hier. Streckenweise. Heimkehr in die Nische?

Das nicht. Aber es gibt im Osten genug Orte, die mit Überraschungen locken. Und im Notfall stehen ja immer genug Nachtbusse bereit, um aus der Nische flüchten zu können. Oder Taxis. Dafür braucht man Geld. Das hab' ich nicht. Also bleib ich erst mal hier.