Korridor nach Berg-Karabach

Armenische Eroberungen in Aserbaidschan/ Kilometerlange Flüchtlingszüge/ Türkisch-russische Initiative gescheitert/ Demirel gegen Özal: „Intervention bedeutet Krieg“  ■ Von Ömer Erzeren

Istanbul (taz) – Über die Situation von von rund 15.000 Aserbaidschanern in der Region Kelbadschar nach der Einnahme durch armenische Truppen herrschte gestern Unklarheit. In Aserbaidschan kursieren Gerüchte über Massaker an der Zivilbevölkerung. Etwa 150 Flüchtlinge seien auf der Flucht ins nördlich gelegene Gyandscha von armenischer Artillerie bombardiert und getötet worden. Bevor die aserbaidschanische Stadt Kelbadschar am Wochenende von armenischen Truppen erobert wurde, hatten rund 40.000 Zivilisten die Stadt verlassen können. Augenzeugen sprechen von kilometerlangen Flüchtlingszügen. Die Kälte und die gebirgige Topographie erschweren die Flucht.

Aserbaidschan hat den UN-Sicherheitsrat inzwischen aufgefordert, sich umgehend mit der Lage im Kaukasus zu befassen. Die Aserbaidschaner vergleichen die Militäroffensive der Armenier mit den Eroberungspolitik der Serben in Bosnien, die ethnische Säuberungen zum Ziel habe. Mit der Eroberung von Kelbadschar haben die Armenier faktisch das gesamte aserbaidschanische Territorium, das Armenien von der ebenfalls armenischen Enklave Berg-Karabach trennt, einverleibt. Bereits im März vergangenen Jahres war die aserbaidschanische Stadt Latschin von armenischen Truppen erobert worden. Damit war ein Korridor nach Berg-Karabach, das in Aserbaidschan liegt, eröffnet.

In einer Erklärung des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums werden die Armenier beschuldigt, ein Zehntel Aserbaidschans erobert zu haben. Mittlerweile kontrollieren die Armenier aserbaidschanisches Territorium von der Größe Berg-Karabachs, das Ausgangspunkt des armenisch-aserbaidschanischen Konfliktes war. Neben der Stadt Kelbadschar wurden weitere 12 Kleinstädte und 32 Dörfer von den armenischen Truppen eingenommen. Aserbaidschan hat Rußland beschuldigt, auf seiten der Armenier Partei zu ergreifen. Die Aserbaidschaner verweisen insbesondere auf den Umstand, daß Kriegsflugzeuge – Armenien und Aserbaidschan verfügen faktisch über keine Luftwaffe – an der Attacke auf Kelbadschar teilgenommen hätten.

Die armenische Regierung dementierte, daß ein Einmarsch Armeniens in Aserbaidschan stattgefunden habe. Reguläre armenische Verbände hätten nicht an den Kämpfen teilgenommen. Ausschließlich Verbände der Karabach-Armenier, die „Selbstverteidigungseinheiten“, seien in die Kämpfe involviert.

Außergewöhnlich hart reagierte die Türkei, die mit Rußland im Berg-Karabach-Konflikt vermitteln will, auf den Einmarsch in Kelbadschar. Nach den jüngsten Kämpfen kann die türkisch-russische Initiative als gescheitert angesehen werden, noch bevor die Gespräche begonnen haben. Der türkische Staatspräsident Turgut Özal, der sich auf Visite in den zentralasiatischen Turk-Republiken befindet, drohte unverblümt mit einer militärischen Intervention gegen Armenien und führte das Beispiel Zypern an: „Wir müssen unsere Zähne zeigen“, sagte er gegenüber Journalisten.

Der türkische Premierminister Süleyman Demirel und das türkische Außenministerium, die die Richtlinien der türkischen Außenpolitik bestimmen, ziehen eine vorsichtigere Sprache vor. In einer Kabinettserklärung wird die „armenische Aggression“ zwar verurteilt. Doch Premierminister Demirel versäumte es nicht, die Worte Özals zu kritisieren. „Wie kann von Intervention geredet werden? Das bedeutet Krieg. Für eine Kriegserklärung bedarf es einer Entscheidung des Parlamentes. Und so eine Entscheidung gibt es nicht.“ Das Ansinnen Aserbaidschans, türkische Helikopter für die Evakuierung von Flüchtlingen einzusetzen, wurde aus „technischen“ Gründen zurückgewiesen.

Doch die armenisch-türkischen Beziehungen sind nach der Einnahme von Kelbadschar äußerst gespannt. Nach langem westlichen Drängen hatte die Türkei den türkischen Luftraum für Hilfslieferungen geöffnet. Zwar will die Türkei nach den jüngsten Vorfällen den Transport nicht völlig blockieren. Doch Regierungssprecher Akin Gönen kündigte an, daß die Kontrollen verschärft werden.