Im Kosovo herrscht Apartheid

Bittere Armut und ein hartes Besatzungsregime in der albanisch besiedelten Region im Süden Serbiens/ Der gegenseitige Haß ist allgegenwärtig  ■ Aus Priština Thomas Schmid

Ein kleiner verqualmter Raum, in dem zwei Dutzend Männer diskutieren; ein Vorzimmer, in dem der Chefredakteur einer international renommierten Tageszeitung sitzt – mit der Tasche auf den Knien, weil es die Enge des Raumes nicht anders zuläßt. Wir befinden uns am Sitz des Präsidenten der Republik von Kosovo, in einer Baracke neben dem Sportstadion in Zentrum von Priština.

Keine schwarzen Limousinen, keine gepflegte Entourage, keine Sicherheitskontrollen. Immerhin eines hat Ibrahim Rugova mit seinen Amtskollegen gemeinsam: er geht nicht mehr nach Lust und Laune in seiner Hauptstadt spazieren. Doch während andere Staatsoberhäupter sich vor Terroranschlägen aus dem Kreis ihrer Untertanen schützen, fürchtet der Präsident des Kosovo den Terror seiner Herren, und das sind die serbischen Besatzer. Seit die unter Titos kommunistischer Herrschaft weitgehend autonome Provinz im Süden Serbiens von Präsident Slobodan Milošević vor vier Jahren gleichgeschaltet wurde, geht im Kosovo die Angst erst recht um – auf beiden Seiten. Die Serben, nicht ganz 10 Prozent der Bevölkerung, haben sich längst bewaffnet. Die Albaner, über 90 Prozent der Einwohner, werden täglich nach Waffen durchsucht.

Wie es dabei zugeht, kann man beim „Komitee zum Schutz der Menschenrechte und der Freiheit“ einsehen. Im Büro der Organisation, die von Adam Denaci geleitet wird, dem „Mandela“ des Kosovo, der 28 seiner 56 Lebensjahre im Knast verbracht hat, liegen Beweise zuhauf. Hunderte von Fotos von entstellten Gesichtern, zerschlagenen Rücken, blutunterlaufenen Augen und Hämatomen an allen möglichen Stellen. Ein neunzehnjähriges Mächen mit abgeschnittenem Ohr und ein Mann namens Jetullah Deska, angeblich Selbstmörder, mit fünf Einschußlöchern. Oder der Zigeuner Bayram Caka, bei dem ein einziger Schuß gereicht hat – besonders brutale Einzelfälle einer makabren Sammlung. Genau 1.125 Beispiele von Mißhandlungen auf der Suche nach Waffen hat das Komitee mit Angaben von Ort und Namen registriert – alle aus dem kurzen Zeitraum zwischen dem 5. Januar und dem 23. März dieses Jahres.

Eine Geschichte von Massakern und blutiger Repression

Der aktuelle Konflikt wurzelt tief in der mittelalterlichen Geschichte des Balkans. Kosovo, so werden die Serben nicht müde zu betonen, ist die „Wiege des Serbentums“. Prizren war eine Zeitlang die Residenzstadt serbischer Könige, Pec war vierhundert Jahre lang der Sitz des Patriarchen, der seit Beginn des 13. Jahrhunderts autokephalen serbisch-orthodoxen Kirche. Und auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) verlor der serbische Prinz Lazar die historische Schlacht gegen den türkischen Sultan Murad, die bis heute, mythisch verklärt, eine bedeutende Rolle im serbischen Nationalbewußtsein spielt.

Unter dem Druck der türkischen Besatzer, die von den islamisierten Albanern unterstützt wurden, flohen die Serben gegen Ende des 17. Jahrhunderts zu Tausenden Richtung Norden. Aus dem Süden der balkanischen Halbinsel rückten die Albaner nach, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Mehrheit im Kosovo stellen.

Die Geschichte des Amselfelds ist auch eine Geschichte von Massakern und blutiger Repression. Opfer waren nach dem Berliner Kongreß von 1878 die Serben, die unter der osmanischen Herrschaft abgeschlachtet wurden. Während der Balkankriege von 1912 bis 1913 traf es die Albaner, gegen Ende des Ersten Weltkrieges wieder die Serben, im Königreich der Zwischenkriegszeit wieder die Albaner, unter der italienischen Besatzung die Serben. Und schon in den ersten Monaten des titoistischen Jugoslawiens wieder die Albaner. In den 70er und 80er Jahren schürte ein wachsender albanischer Nationalismus – christliche Friedhöfe wurden geschändet, der Sitz des Patriarchen in Brand gesteckt, einige Serben ermordet – sicher Ängste unter der slawischen Minderheit, die allerdings in dieser ganzen Periode immer die institutionelle Macht, den staatlichen Repressionsapparat auf ihrer Seite wußten.

Dies zeigte sich 1981 besonders deutlich, als bei der Unterdrückung von Unruhen an die tausend Albaner getötet wurden. Und spätestens seit Milošević über antialbanische Massenmobilisierungen seine Macht in Belgrad festigte und schließlich auf verfassungswidrigem Weg 1989 Parlament und Regierung in Priština auflöste, sind die Fronten klar: Eine entrechtete albanische Mehrheit steht gegen eine privilegierte, mit staatlicher Gewalt geschützte serbische Minderheit. Es ist eine typische Kolonialsituation.

In den letzten drei Jahren wurde der öffentliche Dienst systematisch serbisiert. Über 100.000 Albaner wurden entlassen, 90 Prozent der albanischen Ärzte und so gut wie alle albanischen Lehrer. Martin Pietrin erinnert sich, als ob es gestern geschehen wäre: „Es war am Morgen, kurz vor 8 Uhr. Ich trank mit dem Vizedirektor gerade Kaffee, als Soldaten die Schule stürmten. Zehn Tage später war sie wieder offen – nur für Serben.“ Der Lateinlehrer arbeitet heute bei „Nena Teresa“ (Mutter Teresa).

Die humanitäre Hilfsorganisation, nach der albanischen Nonne aus Skopje benannt, die für ihre Sozialarbeit in Kalkutta den Friedensnobelpreis erhielt, leistet eine beachtliche Arbeit. Jak Mita, ihr Vorsitzender, hat die Bedürftigen in vier Kategorien aufgeteilt: Familien mit bis zu vier Kindern und ohne Einkünfte; Familien mit mehr als vier Kindern und ohne Einkünfte; Familien mit Einkünften von monatlich unter 10 DM; weitere Bedürftige. Heute betreut „Nena Teresa“ 43.320 Familien, das sind – bei einer durchschnittlich sechsköpfigen Kosovo-Familie – 260.000 Personen, ungeachtet aller serbischen Schikanen.

Anders als Martin Pietrin sind die allermeisten entlassenen Lehrer im Schuldienst geblieben. Seit nunmehr anderthalb Jahren sind die albanischen Sekundarschulen und Gymnasien zwar geschlossen. Auch die Universität ist stillgelegt, ihr Rektor Ejup Statovci wurde vor kurzem zu zwei Wochen Haft verurteilt. Im Sommer 1991 hatte er ohne Visum Albanien besucht. Sein Kollege Uksina Horija wurde in der gleichen Woche zu 55 Tagen verurteilt, weil er öffentlich die Wiedereröffnung der Universität gefordert hatte. Den Dekan prügelte die Polizei vor seinen Studenten krankenhausreif.

Unterricht in Schuppen, Garagen und Wohnzimmern

Der Schulbetrieb in albanischer Sprache geht trotz allem weiter – privat. In Lagerhallen, Schuppen, Garagen und Wohnzimmern wird oft auf engstem Raum unterrichtet. Die Lehrer erhalten ein bescheidenes Salär aus einem Solidaritätsfonds, die Schüler Zeugnisse und die Studenten nach dem Abschluß des Studiums ein Diplom. Aber so ganz ohne Schwierigkeiten geht dieser alternative Schulbetrieb doch nicht ab. Immer wieder beklagen sich Studenten, daß die Polizei oder Miliz sie anhält, verprügelt und die Studienbücher zerreißt. Auch die Gastgeber werden unter Druck gesetzt. „Gestern abend“, so gibt Fahredin Simoni (*) seiner Partei, dem „Demokratischen Bund“, aufgeregt zu Protokoll, „kamen zwei Personen zu mir und wollten den Elektrozähler ablesen. Als ich ihre Ausweise zu sehen verlangte, sagten sie nur: Hier, bitte, sind unsere Ausweise – und zogen die Pistolen.“ Ihrer Forderung nachzukommen, das Wohnzimmer nicht länger als Klassenzimmer zu verwenden, steht für den Albaner nicht zur Debatte.

Auch die entlassenen albanischen Ärzte haben nicht aufgegeben. Ihre Patienten behandeln sie nun in einem halben Dutzend primitiv eingerichteter Privatkliniken. Selbstredend umsonst. In der Klinik von „Nena Teresa“ hantiert Doktor Skender Baca an einem Ultraschallgerät, das von der Caritas stammt, während sein Kollege im Nebenraum kleine Kinder in die Pobacken piekst und im dritten Raum eine schwer hustende Frau untersucht wird. Keiner der drei Räume, die die Klinik ausmachen, ist größer als zwölf Quadratmeter; die Türen stehen halb offen, manchmal verdeckt ein Vorhang das Geschehen.

Angst vor Zwangssterilisation in staatlichen Kliniken

Der Andrang von Patienten ist groß. Denn die staatlichen Kliniken sind für die allermeisten Albaner unbezahlbar geworden. In den gynäkologischen Abteilungen, in denen früher jährlich 12.000 Kinder geboren wurden, schiebt man heute eine ruhige Kugel. In die übriggebliebenen serbischen Ärzte haben die meisten Albanerinnen kein Vertrauen. Viele befürchten, bei der Geburt zwangssterilisiert zu werden.

Murat Alju ist stolz auf seinen zahlreichen Nachwuchs. Man sieht es dem 61jährigen Bauer an. 17 Personen wohnen in seinem Haus in einem Dörfchen nahe der Hauptstadt. Doch drücken den alten Mann mit seinem traditionellen weißen Kopftuch Sorgen. Vorgestern ist Fahredin, sein zweiter Sohn, abgehauen. Mit Isup, seinem ersten, der nun in der Nähe von München lebt, hatte er vor zwei Monaten die Reise lang und breit besprochen. Doch Fahredin hat sich einfach während seiner Abwesenheit davongemacht. „Er wußte, ich hätte ihn nie ziehen lassen“, zürnt und jammert der Bauer.

Sieben Kinder haben Isup und Fahredin, die nun ihr Glück im Ausland suchen. Und so hoffen alle, daß die Brüder eines Tages Geld nach Hause bringen werden, damit es die Kinder einmal besser haben. Noch erwirtschaftet der Hof genug, um die Großfamilie mit Frischkäse, Joghurt und Paprika zu versorgen. Über zwei Hektar Land, vier Kühe, ein Kalb und einen Traktor nennt Murat Alju sein eigen. Das ist nicht wenig. Auch wenn es für den Traktor keinen Diesel gibt. „Es gibt natürlich schon welchen“, korrigiert sich Murat Alju, „aber nur für diejenigen mit dem Parteiausweis.“

Noch reicht das Mehl für das tägliche „Pite“, das große runde Brot aus Blätterteig, das sich die Familie jeden Abend teilt. Doch Murat Alju befürchtet Schlimmes. Gerade ist der noch rüstige Mann nach zwei Stunden Fußmarsch aus dem Nachbardorf zurückgekehrt. Dort sei ein Laster aus der Hauptstadt vorgefahren, berichtet er, und habe Mehl ausgegeben – allerdings nur an Serben. Und vor zwei Wochen erst sei Željko Raznatović, genannt „Arkan“, mit einer Polizeieskorte bei einem albanischen Händler vorgefahren und habe unter einem billigen Vorwand 20 Tonnen Mehl, zwei Tonnen Zucker und sechs Tonnen Schrot beschlagnahmt. Einen Zusammenhang zwischen den beiden Vorfällen wolle er nicht behaupten, sagt Murat Alju, aber an einen Zufall glaube er auch nicht.

„Arkan“, wegen einer Reihe von bewaffneten Delikten von Interpol gesucht und Chef einer berüchtigten Tschetnik-Truppe, ist seit den Wahlen im Dezember auch Abgeordneter im jugoslawischen Parlament. Gewählt wurde er in Priština, wo die Albaner wie überall im Kosovo den Urnengang boykottierten. Weshalb hätten sie auch an den Wahlen teilnehmen sollen? Belgrad liegt im Ausland. Seit dem vergangenen Mai hat der Kosovo seinen eigenen, unter semiklandestinen Bedingungen von fast allen Albanern gewählten Präsidenten, und der heißt Ibrahim Rugova. Daß er in einer Baracke residiert, tut nichts zur Sache.

Siehe Interview auf Seite 10)

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