Runter vom Denkmalsockel!

Die Notwendigkeit der „Guerilla-Mentalität“: Das Verhältnis Rudi Dutschkes zum bewaffneten Kampf  ■ Von Lutz Taufer

Ein sonniger Sonntag, drückend der Anlaß. Hamburg, 18. November 1974, Stellinger Friedhof, die Beerdigung von Holger Meins. Rudi Dutschke drängt sich durch die Menge ans offene Grab: „Holger, der Kampf geht weiter!“ Ein Satz, zu dem es Diskussionen geben sollte, kein Satz zum bewaffneten Kampf. Dutschke sprach da von etwas weit Wichtigerem: von einem Verhältnis untereinander, über Gräben und Gräber hinweg; von einer Haltung, den bestehenden schlechten Verhältnissen gegenüber. Es war das Bemühen und der Wunsch, den gemeinsamen Ausgangspunkt festzuhalten.

Herbst 1977, harte Kritik von Dutschke: „Oder ist es schon lange kein sozialistisches Ziel mehr, was die Terroristen bewegt? Letzteres ist nicht auszuschließen, denn in ihren Argumentationen und Diskussionen, soweit sie überhaupt von außen durchschaubar und erkennbar sind, gibt es die Frage der sozialen Emanzipation der Unterdrückten und Beleidigten schon lange nicht mehr.“1

Mai 1977. Günter Sonnenberg wird bei einer Schießerei mit der Polizei lebensgefährlich verletzt. Kopfschuß, wochenlanges Koma. Wenige Tage nach der Meldung über diesen „Fahndungserfolg“ klingelt es bei der Familie Sonnenberg. Ein Unbekannter steht vor der Wohnungstür, stellt sich als Rudi Dutschke vor, bietet Hilfe für Günter an.

Besuch bei Jan Carl Raspe, kurz nach dem Tod von Holger: „Ja, wir sind keine liberalen Humanisten, wir sind revolutionäre Humanisten, das heißt, bei uns gibt es ein Verhältnis von ,Liebe‘ und ,Haß‘, wir hassen die Verhältnisse und wir lieben die ,Unterdrückten und Beleidigten‘, allerdings auch unsere eigene Menschenwerdung. Wir lieben nicht den Tod... Holger Meins wird ihn mit Sicherheit auch nicht gewünscht haben, darum trifft die Herrschenden eine eindeutige Schuld!“2

Ein Brief Dutschkes an das Ehepaar Gollwitzer: „Strauß brachte die gegenwärtige Phase vor wenigen Tagen auf den richtigen Begriff: ,Wenn der Terror nicht durch neue Gesetze schnellstens zu beseitigen ist, dann wird der Ruf nach dem starken Mann erfolgen.‘ Besser konnte das eigene Interesse versteckt und vernebelnd nicht ausgedrückt werden.“ 3

Ein in den siebziger Jahren immer wieder gegen die RAF angeführtes Argument. Es hat sich als Fehleinschätzung erwiesen. Im Gegenteil.

Wenn es heute, zum ersten Mal nach 45, eine reale faschistische Bedrohung gibt, dann nicht als Folge bewaffneter Aktion, sondern weil „die Frage der sozialen Emanzipation der Unterdrückten und Beleidigten“ Zug um Zug aufgegeben wurde, um bei den Grünen per definitionem überhaupt nicht mehr vorzukommen. In Ostberlin soll in diesem Jahr Hunderten selbstorganisierter Projekte der Hahn abgedreht werden, welche Folgen das dort, etwa bei den Jugendlichen, haben wird, können wir an zwei Fingern abzählen. Die westdeutsche Linke ist seit Monaten damit beschäftigt zu prüfen, ob Lichterketten gut oder böse sind. Die Leute in Ostberlin, die um die Rettung des Fundaments gesellschaftlich sinnvoller Tätigkeit mit hohem antifaschistischem Stellenwert kämpfen, stehen allein. Von der Frage des politisch-kulturellen Klimas am kommenden Regierungssitz Berlin mal gar nicht zu reden: Wann immer in den siebziger und achtziger Jahren mobilisiert werden konnte, waren solche Strukturen eine verläßliche Grundlage.

68 – Ursprung einer gelungenen Demokratisierung? Spätestens mit den sich heute in Deutschland abzeichnenden Entwicklungen steht diese beliebte 68er-Selbstbeweihräucherung nun wirklich in Frage. Ohne Zweifel: Demokratisierend wirkte 68 insofern, als die Revolte eine Linke in dieses Land wieder hereingebracht und hat berechtigt sein lassen, die ein für allemal auszurotten der Faschismus versucht hatte. Politisch-kulturelle Momente, die nach 45 nie weggekämpft und die für Restauration und Kalten Krieg in aller Unbefangenheit erneut in Betrieb genommen wurden, wurden in gesellschaftlich signifikantem Umfang verdrängt durch politisch-kulturelle Momente, deren Kontinuität – bei allen Verirrungen – im Lauf der Geschichte links erkämpft wurden. Wo der Kapitalismus in seinen Zentren in einem bescheidenen Umfang ins Zivilisatorische und Produktive gedrängt werden konnte, geschah dies durch ebenso langwierige wie harte soziale Kämpfe. Auch die Sänger des freien Markts, deren Balladen wir doch so häufig in der taz lauschen durften, werden inzwischen ahnen, daß der auf die Menschheit losgelassene Weltmarkt nicht gerade zu Demokratie, Frieden und Harmonie mit der Natur führt. Auch der oben angedeutete Demokratisierungsschritt war ohne Revolte und Aufstand nicht zu haben. In einer westdeutschen Bundesrepublik schon gar nicht! Ich denke, von dieser außergewöhnlichen Anstrengung, Schritte politischer Emanzipation zu machen, spricht das 1967 von Dutschke und Krahl gehaltene Organisationsreferat: „Das Sich-Verweigern in den eigenen Institutionsmilieus erfordert Guerilla-Mentalität, sollen nicht Integration und Zynismus die nächste Station sein.“4

„Vietnam hat uns gelehrt, daß das Feld des Möglichen unerläßlich ist, daß man nicht resignieren muß. Genau das war der Hebel der Studentenrevolte“, sagte Jean Paul Sartre 1969.5 In diesem aufbrechenden Bewußtsein und in ihrer Aktion fiel der entstehenden Bewegung zu, was jenseits dieser Mentalität auf ewig unzugänglich, ja ungeahnt geblieben wäre. Möglich geworden war das zügige Überwinden von Schranken und Tabus auf allen herkömmlichen Ebenen. Der Schreck darüber brachte einen Teil der 68er und in den siebziger Jahren dazu, diese Erfahrung, ohne die fundamentale Veränderungen überhaupt nicht möglich sind, so gut zu verschlüsseln und zu verstecken, daß am Ende niemand mehr ahnte, daß es an dieser Stelle überhaupt etwas zu suchen gibt. Das Rätsel, das dem offensiven Bewußtsein gar keines ist, wird dem defensiven immer eines bleiben. Jenes war die beste Kraft der Revolte und dies auch ihre politische Effizienz. Dutschke war Protagonist dieser Entwicklung. Er sprach von dem, was Tausende dachten und empfanden. Er war ihr Anführer sowenig wie Ulrike Meinhof eine zweite Rosa Luxemburg. Solche Entrückungen spiegeln doch wirklich nur den Wunsch, endlich loszuwerden, was auf solche Überfiguren projiziert werden kann.

Der Akkord, der hier, vielleicht für eine erste historische Minute angeschlagen war, öffnete Sinne und Wahrnehmung, Herz und Verstand nach zwei Weltkriegen, nach Faschismus und Stalinismus für einen Versuch, die Entscheidung „Sozialismus oder Barbarei“, bis dato in fern-utopische Zukunft ausgelagert, hereinzuholen in den konkreten Alltag. Utopie im Hier und Jetzt. Gegenmacht, die die eigene Erfahrung Vorgefundenem vorzieht. Mißtrauen mußte, was sich als unfaßbarer Alptraum des Arrangements mit noch vergangener Hitlerei anzubieten wagte; Mißtrauen mußte, was sich als emanzipativ tote Verhältnisse im Realsozialismus zeigte, ohne dem herrschenden Antikommunismus auf den Leim zu gehen. Da war kein Weg, der guten Gewissens hätte betreten werden können. „Kritik... ist es, die Erlebnis zu Erfahrung, Erfahrung zu Begriff macht, und deshalb wird jedesmal die Realität dabei gebrochen – entmystifiziert, angeeignet.“ Gudrun Ensslin im September 1976.

Ein Teil der 68er hatte sich außerhalb des zum Ersticken eng bemessenen Feldes der Möglichkeiten gestellt – und nur von dieser selbstbewußten Position des Bruchs und der Diskontinuität war es möglich, als emanzipativ-revolutionäre Gegenmacht in die Gesellschaft hineinzuwirken. Mit Getto hatte das nun weiß Gott nichts zu tun. Im Gegenteil: Es brauchte die Kraft, den Erfingungsreichtum, die Lernfähigkeit und Beweglichkeit, die Talentiertheit der Guerillamentalität – vor allem aber deren Courage. Um wieviel mehr erst heute!

An jenem Tag im November 1974 waren auseinandergesprungene Elemente einer Bewegung anwesend, nicht alle, aber einige wesentliche. In ihren Aufbruchsversuchen, hierhin, dorthin, plural, aber doch in aller Unschuld beieinander, war sie Anlaß großer Hoffnung gewesen. Aber nun, auseinander- und gegeneinander gebrochen, war die revolutionär-emanzipative Kraft des gemeinsamen Ausgangspunkts nicht mehr wiederzuerkennen. Ein Teil des 68er- Milieus hatte bereits Seßhaftigkeit ins Auge gefaßt; das selbstzufriedene Kopfschütteln über Dutschkes Parole am Grab eines RAF- Gefangenen war da nur der unausweichliche Reflex. Ganz andere Erlebnisse sollte dieser Rückzug noch bescheren – einige wenige, die mir in Erinnerung geblieben sind: Christian Semler (damals einer der beiden Chefs der KPD/AO), verweigert im Herbst 74 den gegen Isolation und Sonderbehandlung und für Gleichstellung mit allen anderen Gefangenen Hungerstreikenden jede Solidarität, ja selbst den Abdruck der Hungerstreikerklärung in der Roten Fahne; oder der Gremliza-Aufruf im konkret-Heft August 77, gegen die RAF mit der Polizei zusammenzuarbeiten; oder das erfolgreiche Zetteln eines Uwe Wesel beim 3. Internationalen Russell-Tribunal „zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland“ gegen die Gefangenen: „Unser Vorschlag wird sein, die Haftbedingungen nicht zu behandeln...“, da „die Haftbedingungen in der Bundesrepublik im Vergleich zu denen anderer Länder vergleichbarer Verfassung nicht schlechter zu sein scheinen. Im Gegenteil: sie scheinen teilweise durchaus besser zu sein.“ (AK 134, 24.7.78) Acht Monate nachdem vier tote RAF-Gefangene aus dem Stammheimer Gefängnis getragen worden waren! Waren nicht längst amtliche Dokumente in Hülle und Fülle veröffentlicht worden, die solchen Statements schroff widersprachen? Waren dies nicht Symptome eben jenes rückläufigen Prozesses, von Dutschke und Krahl als „Integration und Zynismus“ vorausgeahnt?

Das Feld des Möglichen ist unermeßlich, Guerillamentalität – was sich Ende der Sechziger/Anfang der Siebziger daraus dennoch entwickeln sollte, stand immer auch unter dem Imperativ, auszuwandern aus dieser vertrocknenden Landschaft. Hier liegen – bei aller gewichtigen Differenz – Wurzeln der Guerilla nicht weniger als der Frauenbewegung und anderer Entdeckungen. Dort aber die Vorboten jenes politisch-kulturellen Vakuums, von 68 hinterlassen, in dem sich heute Sekundär-Barbarisches ausbreitet.

Zum bewaffneten Kampf ist 1991 bis 1993 von RAF und Gefanagenen vieles – noch lange nicht alles – gesagt worden. Gearbeitet werden mußte unter Bedinungen respektive ihren teilweise dramatischen Nachwirkungen, die heute von den Medien, der Justiz und der Politik als Isolationsfolter aufgespießt und in Hunderten von Strafverfahren verfolgt werden – wo sich das in Stasi-Gefängnissen abgespielt hatte. Von dem 1991 bis 1993 Gesagten gibt es nichts Grundsätzliches zurückzunehmen. Brigitte Mohnhaupt hat dies gerade noch einmal bekräftigt. Auch dann nicht, wenn Staat und Justiz sich bei Irmgard Möller – um nur ein krasses Beispiel zu nennen – zu jenem Schritt nicht entschließen können, zu dem sich das südafrikanische Rassistenregime bei Nelson Mandela entschließen konnte: nach mehr als zwei Jahrzehnten einfach freilassen. Zeitgleich mit der heutigen Einweihung eines Rudi-Dutschke-Denkmals taucht dieser Name an einer ganz anderen Ecke Berlins auf. Eine Berliner Autonomen-Zeitschrift stellt dieser Tage das Organisationsreferat zur Debatte. Was immer Jüngere mit einem solchen Text anfangen können, ein Denkmal werden sie kaum draus machen.

1) Ulrich Chaussy: „Die drei Leben des Rudi Dutschke“, Frankfurt/Main 1985, Seite 275

2) „Holger, der Kampf geht weiter!“, Gaiganz, 1975, Seite 127

3) Chaussy, a.a.O., Seite 274

4)„Arranca! Zeitung für eine radikale Linke“, Nr. O, Berlin, Janaur 1993

5)„Il Manifesto“, September 1969

Der Autor ist 48 Jahre alt und gehörte dem RAF-Kommando an, das Ende April 1975 die westdeutsche Botschaft in Stockholm besetzte. Er wurde nach der gescheiterten Befreiung anderer RAF-Gefangener, bei der zwei Kommandomitglieder und zwei Botschaftsangehörige ums Leben kamen, zu zweimal lebenslänglich verurteilt und sitzt derzeit in der Justizvollzugsanstalt Celle ein.