Sag mir, wo der Brandy ist

Friedrich Kurz hat sich am „Musical der Neunziger“ versucht: „Sag mir wo die Blumen sind“. Wie man die Geschichte von Marlene Dietrich auch erzählen kann  ■ Von Klaudia Brunst

Eines Morgens hatte das Schreiben plötzlich im Briefkasten gelegen. Gewiß, es traf Jürgen Wölffer, jüngster Sproß der alteingesessenen Berliner Theaterfamilie, nicht unvorbereitet. Die Mauer war gefallen, und daß die Immobilienhaie schon vor den Toren der neuen alten Hauptstadt standen, wußte hier jeder. Aber eine Mieterhöhung von sechzig Prozent – das muß ihm sofort klargewesen sein – konnte die kleine privatwirtschaftliche Boulevard-Bühne am Kurfürstendamm nicht mehr verkraften. Ein Macher mußte her, einer, der die alte Max-Reinhardt-Bühne wieder zur ersten Adresse im Lande machen konnte. „Ich glaub', daß er's besser kann“, erklärte Jürgen Wölffer vor einem halben Jahr mit traurigen Augen, als er seinen Teufelspakt mit dem Musicalzar Friedrich Kurz der Presse bekanntgab. Es war das letzte, was man von ihm hörte. Fortan übernahm Friedrich Kurz das Mikrophon, das Theater und die Marketing-Regie. Das war am 10. September 1992, eine Theaterposse in zwei Akten nahm ihren unabänderlichen Lauf.

Das „Musical der Neunziger“ wollte Friedrich Kurz den BerlinerInnen noch vor Ostern präsentieren, „Kurz-weilig mit politischer Botschaft“ sollte es sein, und einen Namen hatte es auch schon: „Sag mir wo die Blumen sind“, die Geschichte von Marlene Dietrich, „wie sie noch nie erzählt wurde“. Ansonsten blieb das Konzept über Monate nebulös. Da gab es die Idee von einem gewissen Martin Flossmann – Kurz hatte sich die Rechte schon gesichert; da gab es ein Stück von Laurence Roman – auch das war schon gekauft; und es gab den Mythos Marlene. Den konnte man zwar nicht bei der Gema pachten, aber prima verkaufen.

Schnell waren die Plakate mit dem Konterfei der Diva gedruckt, die Werbetrommel gerührt, und schon bald buchten die Busunternehmer von Chemnitz bis Wanne- Eickel die „Package-Tours“ nach Berlin, Marlene inklusive. Noch bevor eine Zeile geschrieben, eine Note gesetzt, eine Schauspielerin engagiert war, hatte der geniale Ticket-Verkäufer Kurz für „Sag mir wo die Blumen sind“ 80.000 Eintrittskarten abgesetzt. Da war Regisseur Terry Hands, der Profi aus Amerika, gerade mal mit dem Casting seiner jungen Theatertruppe fertig. Als die Proben begannen, wurde am Stück in London noch geschrieben, Rolf Hochhuth sollte es später für den hiesigen Markt bearbeiten, „damit man sicher sein kann, daß das dann richtiges Deutsch ist“.

Aber da kam die dramatische Wende: Der Starautor hatte plötzlich Besseres vor, nämlich „Wessis in Weimar“, und Hauptdarstellerin Frederike von Stechow, ein hübsches Gesicht aus der Provinz, machte im letzten Moment einen Rückzieher: „Fiebrige Erkältung“ stellte der Arzt fünf Tage vor der Weltpremiere fest, da war die Stechow in den Prewiews schon ein paarmal ausgebuht worden.

Aber „the show must go on“, wie der schwäbische „Mr. Musical“ am Dienstag mittag im noblen Steigenberger der Presse erklärte. Für die Zweitbesetzung Jutta Habicht sei das nun die „Chance ihres Lebens“. Gerade eben probe sie mit Terry Hands auf der Hauptbühne ihre Rolle, und wir sollen es ihr doch bitte nicht zu schwer machen, wenn heute abend der Vorhang für die Pressevorführung hochgeht.

Journalisten sind keine Unmenschen, aber natürlich – und das ist vielleicht der beste Marketing-

Trick aus dem Hause Kurz – sitzen wir am Abend doch gespannt in unseren Samtsesseln: Wird sie es schaffen, diese Wie-hieß-sie-doch- gleich-Habicht, von der Friedrich Kurz am Mittag noch gesagt hatte, er sei „froh, wenn sie die Rolle bis heute abend lernt“? Wie wird sie sich in die Figur der Marlene fügen, sie, die der Dietrich so auffallend ähnelt. Kriegen wir einen billigen Abklatsch – oder doch einen neuen Star?

Die Spannung steigt, besonders als es endlich losgeht und eine ganz unerwartete Marlene dem legendären „Koffer in Berlin“ entsteigt. Dickbeinig ist sie, breitschultrig, und sie heißt Rainer Luhn. Denn das Stück, das anscheinend nun doch rechtzeitig zur Premiere fertig geworden ist, ist ein „Backstage-Musical“, und Rainer ist der Travestie-Star einer kleinen Berliner Theatertruppe. Allabendlich machen die sechs jungen Leute ihre Faxen auf der Bühne, streiten sich anschließend um die besten Rollen und um die Frauen im Team. Inspizientin Anna will auch mal die Marlene spielen und muß dafür mit dem Chef ins Bett, und Frederike – pardon! seit heute heißt die Rolle Jutta! – will es auch. Und so singen sie dann ihrem Boß nach der Vorstellung gemeinsam vor, und schwuppdiwupp! sind wir auch schon in der Zeitmaschine.

Da steht nun plötzlich die echte Marlene vor uns, rank und schlank und souverän, und legt dem Herrn von Sternberg ein Solo hin, daß es eine Art hat. Peter Kreuder begleitet sie am Klavier, Lucie Mannheim, die ausgebootete Konkurrenz, kocht in angemessener Wut, und nur wir abgebrühten Journalisten gähnen ein erstes Mal, weil wir doch zu gut wissen, wie es gleich weitergeht. Station um Station wandert die Drehbühne durch die Lebensgeschichte der Dietrich: Probeaufnahmen in der Ufa, Dreharbeiten mit Emil Jannings und dem Blauen Engel, dann schon Hollywood: „Marokko“ und Gary Cooper, Cocktailparties und ihre wahre Liebe Jean Gabin. Nur für ihn singt Jutta Habicht auf der Freitreppe ihr „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“. Ein paar unerzogene Kollegen lachen jetzt leise in ihre Schreibblöcke, denn es ist schon zu komisch, daß uns ausgerechnet in diesem theatralischen Moment die glitzernde Dekoration den Blick auf die Diva versperrt. Aber es ist nur ein kleiner Augenblick, denn gleich schon wird sie ihre gigantische Pelzstola ablegen, um als tapferer Soldat in den Krieg zu ziehen.

Aber auch das Leben der kleinen Sangestruppe geht gnadenlos weiter. Mal verlustiert man sich bei schlüpfrigen Witzen und billigem Schampus in einer peinlichen Piano-Bar, dann trifft sich das muntere Theatervolk zur Friedensdemo am Potsdamer Platz. Da will nämlich der böse, böse Rüstungsmulti Mercedes ein böses, böses Bürogebäude hinstellen (und der böse, böse Kurz-Konkurrent Deyhle ein Musical-Theater, aber das tut hier nichts zur Sache). Als Rainer Luhn mit schwuchteliger Stimme den schönen Satz sagen muß: „Ihr Süßen – wenn wir schon nicht zueinander nett sein können– wie können wir dann nett zu Ausländern sein?“, vergessen auch die letzten Journalisten endgültig, daß sie doch nett zu Jutta Habicht sein sollten, und geben ihrem intellektuellen Schmerz recht lautstark Ausdruck.

Aber das Ende dieser banalen Polit-Nostalgie-Farce ist noch lange nicht in Sicht. Wer nur so zum Spaß gekommen war, sucht in der Pause glücklich das Weite. Terry Hands sei hinter der Bühne mit einem doppelten Brandy gesehen worden, heißt es gerüchteweise im Foyer, und die redaktionellen Notbesetzungen, die bis zum bitteren Ende ausharren müssen, haben für dieses traurige Besäufnis größtes Verständnis. Auch uns täte ein kleiner Johnny Walker gut, haben wir doch die größten Peinlichkeiten noch vor uns: Marlene als Kriegsteilnehmerin im blutdurchtränkten US-Lazarett, oder später zu Besuch in der skandalös kitschigen KZ-Dekoration Bergen-Belsen, wo ihre Schwester als Aufseherin gearbeitet haben soll. Zur letzten Hochzeit der alkohol- und tablettensüchtigen Piaf schiebt Jutta Habicht, die sich angesichts des Tumults im Parkett nun als ausgebuffter Profi erweist, Ediths Rollstuhl tapfer dreimal über die Drehbühne, sagt ihre lächerlichen Sätze auf, und hofft inzwischen sicher auch, daß bald alles vorbei ist. „Ich frage mich, was meine Mutter jetzt wohl über ihre Marlene denken würde?“ spricht sie nach zwei langen Stunden gedankenverloren ins Publikum, „aufhören!“ ruft es von unten zurück.

Aber so schnell läßt sich die Habicht nicht ins Bockshorn jagen, nicht so kurz vor dem endgültigen Sieg. Schließlich gibt es da diesen gut dotierten Erstbesetzungsvertrag, diese Jahrhundertchance und diesen Musical-Giganten, der schon häufiger aus dem übelsten Mist das große Geld gemacht hat. Und so tritt Jutta Habicht, die ihre Sache wirklich nicht schlecht gemacht hat, ein letztes Mal vor diese ungehobelte Journalistenmeute, singt mit klarer Stimme, theatralischem Gestus und erhobenem Haupt „Mutter, hast du mir vergeben?“ Das „Bestimmt nicht!“ aus Reihe sieben ignoriert sie mit Größe, und auch die Tatsache, daß es am Ende kaum mehr als höflichen Applaus gab.

„Wartet, wartet nur ein Weilchen“, wird sie sich gedacht haben, denn schon am nächsten Abend ist große Gala-Premiere, und da kommen die feineren Menschen. Inge Meysel und Hildchen Knef, Hajo Friedrichs und Birgit Breuel, und auch Jürgen Wölffer, der nun ahnt, daß er das wohl auch gekonnt hätte, meldet sich aus der Versenkung zurück. Und alle diese gutangezogenen Menschen aus der Provinz werden es wunderbar finden: dieses Stück, das wohl doch in der Hektik zu schreiben vergessen wurde, diese Schauspieler, die angesichts des tobenden Chaos auf der Drehbühne vor allem mit ihren fliegenden Kostümwechseln glänzen – und natürlich den Marketing- Erfolg eines gewissen Herrn Kurz. Für mittlerweile acht Millionen Mark hat er bereits Tickets verkauft, und da die Buspakete für das kommende Jahr bereits fest geschnürt sind, ist das sicher noch lange nicht das Ende. Herr Ober, einen doppelten Brandy, bitte!“

„Sag mir wo die Blumen sind“. Regie: Terry Hands; Musik: Bill Byers unter Verwendung diverser Lieder von Friedrich Hollaender u.a.; Text: Laurence Roman, nach einer Idee von Martin Flossmann; Übersetzung: Harald Stadler; Dialogbearbeitung: Jockel Tschiersch; Choreographie: Terry Gilbert; Bühne und Kostüme: Johan Engels. Mit: Jutta Habicht, Anna Bkolk, Thomas Bayer, Fritz Eggert und Rainer Luhan. Special Guest: Frederike von Stechow.

Weitere Vorstellungen: täglich, 20 Uhr, bis ins Jahr 2000.

Das Super-Package-Steigenberger-Arrangement: 1 Übernachtung inkl. Büffet-Frühstück, 1 Fl. Champagner, 1 Eintrittskarte der Top-Kategorie und 1 Musicalpräsent: Preis pro Person im Doppelzimmer 395 DM