Situationisten am PC

■ "Processed World", eine etwas andere Angestelltenzeitschrift aus San Francisco

„Eine Exotik des Alltags, abenteuerlicher als eine Filmreise nach Afrika“, entdeckte Siegfried Kracauer, als er 1929 im Auftrag der Frankfurter Zeitung eine Studie über „Die Angestellten“ schrieb. In den USA setzt eine Zeitschrift Kracauers Expedition ins exotische Land der Büroarbeiter fort: Processed World wird seit 1981 von einer anarchistisch-situationistisch orientierten Gruppe in San Francisco herausgegeben, die sich nach Universitätsausbildung und linkem Aktivismus im berühmt-berüchtigten „Hippie“-Viertel Haight Ashbury plötzlich als Büroangestellte im financial district von S.F. wiederfanden. Statt als Künstler, Schriftsteller, Journalisten, Fotografen, Tänzer oder in anderen kreativen Berufen mußten sich die Gründer von Processed World ihr Geld plötzlich mit Brotjobs im Dienstleistungsgewerbe verdienen. Sie fügten sich nicht in die von finanziellen Sachzwängen diktierte Diaspora im Herzen von corporate America, sondern suchten nach Mitteln und Wegen, ihre Isolation im Großraumbüro am Computerterminal zu durchbrechen. Da die amerikanischen Gewerkschaften in den 80er Jahren mit freundlicher Unterstützung der Reagan-Administration kaltgestellt wurden, begannen die unfreiwilligen Bankangestellten „Gidget Digit“ (Pseudonym von Stephanie Klein), „Lucius Cabins“ (Chris Carlsson) und andere frustrierte data slaves, eine Zeitschrift für die „Arbeiterklasse von Silicon Valley“ herauszugeben.

Die ersten Ausgaben von Processed World verkauften sie in der Innenstadt von San Francisco als Computer verkleidet. Verkaufsargument: „If you hate your job, you will love this magazine!“ (Wenn Sie Ihren Job hassen, werden Sie dieses Magazin lieben, Anm. d. Säz.) Gedruckt wurde die selbstproduzierte Zeitung auf Papier, das aus den Büros geklaut wurde, in denen sie als dissidente Sekretärinnen oder data processor (Datenanwender, Anm. d. Säz.) arbeiteten. „Ich dachte immer, daß ich die einzige bin, die sich so beschissen fühlt. Seit ich Processed World kenne, weiß ich, daß ich nicht allein bin“, schrieb eine Leserin, nachdem sie die erste Ausgabe der Zeitschrift gelesen hatte.

Auch heute liefern alle Mitarbeiter ihre Beiträge umsonst – a true labor of love (eine wahre Arbeit der Liebe, Anm. d. Säz.), wie es im Vorwort zu der Anthologie „Bad Attitude“, einer Auswahl aus Artikeln aus Processed World, heißt. Ein Zweijahresabo für vier Ausgaben kostet in den USA 15 Dollar, im Ausland 35 Dollar. „Eine Mischung aus dem Kommunistischen Manifest und einem Comic“ haben die Herausgeber von Processed World ihr Magazin genannt. Und selbst der bürgerliche San Francisco Examiner gab zu: „Processed World“ ist seiner Zeit um 25 Jahre voraus.“

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, Krankfeiern oder Entlassungspraktiken waren Oberthemen von Processed World-Ausgaben. Ein Thema, das sich durch die Hefte zieht, ist Sabotage. Ein Programmierer aus Dallas beschreibt zehn verschiedene Methoden, den Computer lahmzulegen: Kaffee, in dem zwei Löffel Salz gelöst wurden, ruiniert die Computertastatur für immer, wenn er „versehentlich“ über die Tasten gegossen wird. Eine Büroklammer, die „zufällig“ auf der Festplatte landet, erledigt geist- und nervtötende Hardware. Doch auch ein „Außer Betrieb“-Schild am Kopierer kann schon für eine wohlverdiente Pause im Bürostreß sorgen.

In Processed World kann ein Hausmeister von IBM seinen erniedrigenden Alltag schildern, einer der besten Beiträge beschreibt die Tätigkeit eines Sacharbeiters von „United Fruit“, der Beschwerden von Kunden bearbeiten muß, die Nägel, Schraubenzieher oder anderen Müll in ihren Obstkonserven gefunden haben. Mit Berichterstattung aus einer „Exotik des Alltags“, die Siegfried Kracauer sich nicht hätte träumen lassen, erfüllt Processed World die erste Pflicht von radikalem Journalismus: die Welt zu beschreiben, wie sie tatsächlich ist. Tilman Baumgärtel

Processed World, 41 Sutter St., 1829 San Francisco, CA 94104, USA