Im Sandschak geht die Angst um

Im vorwiegend muslimisch besiedelten Süden Serbiens vertreiben Serben aus Bosnien die Bewohner der Grenzgebiete. Die Muslime des Sandschak fordern eine entmilitarisierte Zone.  ■ Aus Novi Pazar Thomas Schmid

Aus den Lautsprechern des Minaretts ertönt der Ruf des Muezzins, in den Kaffeehäusern sitzen Männer mit hochgeschlagenem Kragen vor kupfernen Kännchen, randvoll mit der schwarzen Brühe, draußen läuft hin und wieder eine Frau in Pluderhosen vorbei. Vom Hauptplatz tönt orientalische Musik herüber. Nein, wir befinden uns nicht in der Türkei, sondern im Süden Serbiens, in Novi Pazar, dem Hauptort des Sandschak.

Der Sandschak war vom späten 14. Jahrhundert bis 1878 unter osmanischer Herrschaft. Nach dem Berliner Kongreß wurde er wie auch ganz Bosnien-Herzegowina mit dem Einverständnis der damaligen „internationalen Gemeinschaft“ von Truppen der Habsburger Doppelmonarchie besetzt. Als diese 1908 Bosnien-Herzegowina förmlich annektierte, überließ sie – um die aufgeschreckten Gemüter zu beruhigen – den Sandschak wieder den Türken. Im ersten Balkankrieg okkupierten schließlich Serbien und Montenegro das umstrittene Gebiet und teilten es sich im Vertrag von Bukarest 1913 auf. Und so erstreckt es sich bis heute – die „Autonome Republik Sandschak“, die Titos „Antifaschistischer Befreiungsrat Jugoslawiens“ 1943 ausrief, blieb ein kurzes historisches Intermezzo – über die beiden Republiken, die das neue, verkleinerte Jugoslawien bilden.

Als Verwaltungseinheit gibt es seither den Sandschak nur noch in den Köpfen der Muslime – und auf dem Papier, allerdings nicht auf dem offiziellen. Die geographische Karte, die Sulejman Ugljanin dem Besucher vorlegt, ist in Kroatien hergestellt und hier in keinem Geschäft zu kaufen. Sie kennt keine serbisch-montenegrinische Grenze, dafür einen Sandschak, der im Norden und Osten an Serbien, im Süden an Albanien, im Südwesten an Montenegro und im Nordwesten an Bosnien-Herzegowina angrenzt. Ugljanin, einst Boxer im Halbschwergewicht, dann Zahnarzt und Spezialist für Prothesen, ist einer der drei Vizepräsidenten der (muslimischen) „Partei der Demokratischen Aktion“ (SDA), die von Alija Izetbegović, dem Präsidenten Bosnien-Herzegowinas, angeführt wird, und gleichzeitig deren Vorsitzender für den Sandschak. Zudem ist er auch noch Präsident des „Muslimischen Nationalrates“ des Sandschak, zu dem sich neben der SDA noch einige kleinere Parteien, die Hilfsorganisation „Merhamet“ und der regionale Schriftstellerverband zusammengeschlossen haben.

Einen Monat nachdem die Serben in Bosnien-Herzegowina ihre autonome Republik ausgerufen hatten, organisierte der Muslimische Nationalrat Ende Oktober 1991 auch im Sandschak ein Volksreferendum. Im serbischen Teil des Sandschak boykottierten die Serben, fast die Hälfte der Einwohner, die Abstimmung, die Muslime, deren Bevölkerungsanteil in der Region 52 Prozent beträgt, stimmten fast geschlossen für die „volle politische und territoriale Autonomie des Sandschaks“ und für sein „Recht, sich selbstbestimmt einer der souveränen Republiken anzuschließen“.

Im montenegrinischen Teil, wo das Verhältnis zwischen den Volksgruppen entspannter ist, war das Resultat ähnlich, doch bei ausgesprochen mäßiger muslimischer Stimmbeteiligung. Doch nahm die montenegrinische Polizei gleich nach dem Referendum fast alle lokalen SDA-Führer fest und durchsuchte ihre Häuser.

Man strebe keine Sezession an, betont Ugljanin, und schon gar keinen ausschließlich muslimischen Sandschak, nur ein „Spezialstatut“ für die Region. Konkret stellt er sich eine entmilitarisierte, neutrale Zone vor, am liebsten unter Protektorat der UNO. Offen fordert der muslimische Politiker die Jugend auf, sich der militärischen Einberufung zu entziehen. Nein, zum „Demokratischen Bund“ der benachbarten muslimischen Kosovo-Albaner unterhalte die SDA keine besonderen Beziehungen, aber „wir haben dieselben Besatzer und denselben Terror“.

Auf der serbischen Seite sieht man das selbstredend anders. Bürgermeister Kosta Jovanović, Mitglied der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) von Präsident Slobodan Milošević, ein wortkarger Typ, der sein Mißtrauen gegenüber dem Reporter nur schlecht versteckt, versteht nicht, „weshalb sich die ganze Welt für den Sandschak interessiert, wo doch hier alles, alles ganz normal ist“. Der ehemalige Dozent für Journalismus und Marxismus, der in Novi Pazar im vergangenen Dezember nur dank des Wahlboykotts der 67 Prozent Muslime zum Bürgermeister gewählt worden ist, findet auch die Stationierung einer KSZE-Mission in seiner Stadt „völlig widernatürlich“. Ihre Arbeit wolle er nicht beurteilen, aber er habe den Neuankömmlingen schon am ersten Tag gesagt: „Seid willkommen, aber wir brauchen euch nicht.“

Gesprächiger als der erste Bürger der Stadt ist der örtliche Vorsitzende der SPS, Miladin Beloica. Er gibt zu, daß die Spannungen im Sandschak zugenommen haben, macht aber die Extremisten in der SDA, die eine Sezession wollten, gewisse Serben in der Radikalen Partei des rechtsextremen Politikers Šešelj, die USA und insbesondere Deutschland dafür verantwortlich. Sie alle hätten aus unterschiedlichen Gründen ein Interesse, die Konflikte zwischen den Volksgruppen zu schüren. Die Spannungen müßten wieder abgebaut werden, meint der Politiker, so daß auch Muslime wieder seine Partei wählen könnten.

Es herrscht dicke Luft in Novi Pazar. Die Stadt ist voller Gerüchte. Weshalb sind kürzlich just während des Bayrams, des Festes, mit dem das Ende des Fastenmonats Ramadan gefeiert wird, hundert Panzer durch das Zentrum gerollt? Eine Provokation, vermuten die Muslime. Ein natürliches Manöver, wie es überall auf der Welt vorkommt, heißt es auf der serbischen Seite. Weshalb werden die Menschen in letzter Zeit fast täglich mit dem Knall von Kampfflugzeugen erschreckt, die mit Überschallgeschwindigkeit über die Stadt hinwegdüsen? Und was sollen die über hundert Beamten der Finanzpolizei, die sämtliche Hotels der Stadt belegen? Sind es im Krieg erprobte Ex-Soldaten, wie Ugljanin argwöhnt, oder doch nur Staatsdiener, die in dieser Stadt, wo Hunderte vom Verkauf geschmuggelter Zigaretten und vom Devisentausch leben, nach dem Rechten sehen wollen, wie es von offizieller Seite heißt?

Die Menschen hier befürchten, daß auch der Sandschak in den Krieg hineingezogen wird. Und überall trifft man auf Rückkehrer, die sich darüber ärgern, daß sie nicht im Ausland geblieben sind. Coric Esad (*) beispielsweise wollte in diesen schrecklichen Zeiten nur nach seiner Familie schauen. Doch in die Schweiz, wo er an einem Tag so viel verdient hat wie hier in einem ganzen Monat, kann der Taxifahrer ad interim – „bis mir was Besseres unterkommt“ – nun nicht mehr zurück. Sein Chef möchte ihn als Maurer zwar wieder haben, aber ein Visum kriegt er nicht. Sahman Muhedin (*) kann nicht nach Kanada zurück und arbeitet jetzt bei „Merhamet“, einer muslimischen Hilfsorganisation, die für viele Familien, die von Embargo, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichem Desaster gebeutelt sind, die letzte Hoffnung ist. „Merhamet“ ist die einzige humanitäre Organisation, die hier im Sandschak tätig ist. Und sie hat erst dreimal Hilfe aus dem Ausland bekommen: im Februar 5.000 britische Pfund von der englischen Hilfsorganisation „Oxfam“, im März 40 Tonnen Lebensmittel vom türkischen Roten Halbmond, und heute sind drei Lastwagen mit 5.200 Lebensmittel-, 3.000 Hygiene- und 700 Kinderpaketen vom Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz eingetroffen. Ansonsten ist man auf die Spenden der Emigranten angewiesen. Allein aus Berlin, wo sich ein „Klub der Freunde des Sandschak“ gegründet hat, haben im März 68 Muslime Beträge in der Höhe zwischen 10 und 954 Mark überwiesen. Solidarität mit der vom Krieg bedrohten Heimat.

Der Krieg ist hier tatsächlich nahe. Die ostbosnischen Gebiete hinter der Westgrenze des Sandschak sind in Händen serbischer Freischärler. Nur die belagerte Stadt Goražde wird von bosnischen Regierungstruppen noch gehalten. Daß drüben, hinter der Grenze, auch Muslime aus dem Sandschak kämpfen, ist kein Geheimnis. Doch das seien Leute, sagt Ugljanin, die schon vor dem Krieg nach Bosnien ausgewandert oder ohne Erlaubnis der Eltern auf eigene Faust in den Krieg gezogen seien – jedenfalls von keiner muslimischen Organisation angestiftet. Der Verdacht, daß der SDA-Chef des Sandschak seinem Parteivorsitzenden in Sarajevo Schützenhilfe organisiert hat, mag zwar naheliegen, doch er wird hier auf keiner Seite geäußert.

Jetzt jedenfalls ist das schlechterdings kaum mehr möglich. Das Grenzgebiet ist militarisiert. Und bereits 1.500 Personen sind innerhalb des Sandschak aus dem Grenzbezirk Priboj, zu 30 Prozent muslimisch besiedelt, ins weiter östlich gelegene Prijepolje geflohen. Die Muslime sprechen schon von schleichender ethnischer Säuberung. Schon über hundert Menschen seien von Freischärlern, Polizei und Armee im Grenzgebiet getötet worden und über 150 verschwunden, behauptet die SDA. Vermutlich deutlich übertrieben, sagt Josef Vlasits, Leiter der KSZE-Mission in Novi Pazar, der im übrigen seinen Mißmut über die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Militärs nicht verhehlt. Der österreichische Slawistik- Lehrer burgenländisch-kroatischer Abstammung versucht, den Vorwürfen, so gut es geht, nachzugehen. Er fährt immer wieder selbst in die entlegensten Gegenden hinaus, um sich vor Ort zu erkundigen.

Fest steht, daß seit dem vergangenen Sommer immer wieder serbische Freischärler aus Bosnien in die Dörfer im Grenzgebiet des Sandschak vorgedrungen sind, Häuser angezündet und Menschen ermordet haben. Als im letzten Oktober bei der Grenzstadt Sjeverin 18 Muslime gekidnappt wurden, setzte die Belgrader Regierung zwar eine Untersuchungskommission ein. Zwei Soldaten der jugoslawischen Armee wurden sogar festgenommen, dann aber schon bald wieder mit der Begründung freigelassen, das Delikt habe auf ausländischem Staatsgebiet stattgefunden. In der Tat waren die Muslime, die vermutlich noch am selben Tag in der Nähe der ostbosnischen Stadt Višegrad ermordet wurden, unterwegs nach Priboj – und die Landstraße von Sjeverin führt ein Stück weit über bosnisches Territorium. Am 27. Februar dieses Jahres wurden auf der Eisenbahnlinie Belgrad–Podgorica 23 Muslime aus dem Zug entführt – just da, wo die Strecke ein zehn Kilometer langes Stück über „ausländisches Staatsgebiet“ führt. Man hat von ihnen nichts mehr gehört. „Beim Angriff von Soldaten der bosnisch-serbischen Streitkräfte auf das Dorf Kukurovici wurden am 18. Februar drei Menschen getötet und zwei schwer verletzt; die Reservisten der Jugoslawischen Armee, die im Dorf stationiert waren, reagierten nicht“, stellte der „Humanitarian Law Fund“ jüngst fest. Die in Belgrad ansässige Organisation, die sich zum Ziel setzt, im Hinblick auf ein künftiges Tribunal Kriegsverbrechen zu recherchieren, schließt ihren Untersuchungsbericht über den Terror im Grenzgebiet bei Priboj mit den Worten: „Höchst beunruhigend ist das Verhalten der Reservisten der Jugoslawischen Armee, die, anstatt die Grenze und Dörfer zu schützen, den Menschen, die Schutz erwarten, ihre Macht demonstrieren.“ Die Formulierung ist wohl vom diplomatischen Kalkül diktiert. Schutz erwarten die Muslime im Sandschak von der Armee schon lange nicht mehr.

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