Ausgrabungsarbeiten

■ Fritz Marquardt inszenierte Horváths „Sladek“ in Berlin

Nach Peter Palitzschs biederen Inszenierungen zeigt nun der zweite der mittlerweile nur noch vier Intendanten des Berliner Ensembles seine Antrittsinszenierung: Fritz Marquardt hat Ödön von Horváths frühes Drama „Sladek“ verquält und vergrübelt in Szene gesetzt. Horváth hat mit dem 1928 entstandenen Stück einen Justizskandal der Weimarer Republik aufgegriffen – ein Zeitstück, das man bis vor kurzem als lediglich historisch interessant lesen konnte.

Durch das Klima im neuen Deutschland gewinnt es fatale Aktualität: Horváth erzählt aus der Vorgeschichte des Faschismus. Seine dumpfe Titelfigur stolpert verwirrt durch die Zeitläufte und klammert sich an eine paramilitärische rechtsradikale Bande wie an einen letzten Halt. Der Staat duldet diese „schwarze Armee“, solange sie verborgen bleibt, eine Unsichtbarkeit, die durch Fememorde an Verrätern gesichert wird. Marquardt setzt nicht auf vordergründige Aktualisierung: Wir sehen eine „Historie“ (so Horváths Untertitel) aus den zwanziger Jahren, keine brennenden Asylantenheime und gröhlenden Skinheads (auch wenn Regisseur und Schauspieler sich den Figuren Horváths bei den Proben dadurch näherten, daß sie Befragungen von Rostocker Randalierern lasen). Diese Historisierung ist der einzig angemessene Umgang mit dem Stoff, weil alle vorschnelle Parallelisierung den heutigen Rechtsradikalismus durch die Unangemessenheit des Vergleichs verharmlosen würde: neben den Morden der Weimarer Zeit wird er zur Kleinigkeit, verglichen mit der munteren Kooperation zwischen Weimarer Justiz und Rechtsradikalen sind die Absprachen zwischen Rostocker Polizeiführung und Skinheads eine Bagatelle. Der sozusagen archäologische Blick der Inszenierung leistet Ausgrabungsarbeiten im Müll deutscher Geschichte und führt, gerade durch die sichtbar gemachte historische Distanz, Kontinuitäten zwischen präfaschistischer und gegenwärtiger Mentalität vor.

Ein zweiter Filter gegen oberflächliche Aktualisierung ist die vor allem in der Anfangs- und Schlußszene betonte Künstlichkeit: Die erste Szene, in der Faschisten einen Journalisten zusammenschlagen, inszeniert Marquardt als eine extrem verlangsamte, gedehnte Choreographie: Die Tritte auf den am Boden Liegenden sind Tanzschritte in Zeitlupe, keine blutrünstige Action. Schade nur, daß das einigermaßen kraftlos und unkonzentriert geschieht; das Spiel war nicht auf der Höhe der Gedanken.

Am wirkungsvollsten stellt Matthias Steins Bühne die distanzierende, überhöhende Künstlichkeit her: Die Zuschauer sitzen auf der (nicht sehr großen) Bühne des Theaters und blicken in die goldstuckverzierten Ränge. Über die Sitze des Zuschauerraums ist ein großes, meistens bis auf wenige Versatzstücke leeres Podest gelegt. Allein der riesige leere Raum nimmt der Inszenierung allen Naturalismus. Deutlicher als durch diesen Bühnenbau kann man nicht zeigen, daß es um einen Kunstvorgang, nicht um kopierte Wirklichkeit geht.

Marquardt ist nicht an wohlfeiler Denunziation interessiert. Sein Blick auf die Figuren ist eher traurig als getrieben von ideologischer Klugscheißerei, er sieht lauter Opfer. Hans Fleischmann, der hier sein Debüt am Berliner Ensemble gibt, spielt Sladek mit feistem Gesicht und derbem bayerischem Dialekt, ein naiver Junge, dessen Gedanken sich langsam und schwerfällig bewegen, unfähig zu begreifen, was mit ihm geschieht. Leider ist Fleischmann der einzige Schauspieler dieser Inszenierung, dem man gespannt zusieht. Alle anderen Figuren sind durchsichtig und berechenbar bis zur Plattheit – eine Schwäche des Stücks, die Marquardt und seine Schauspieler nicht auffangen konnten (wie überhaupt dieses Theater nach wie vor darunter leidet, nur wenige übers Mittelmaß hinausragende Schauspieler zu besitzen). Der „Hauptmann“ der Rechtsradikalen (Axel Werner) bellt und brüllt, daß es für jeden Liebhaber gediegener Klischees eine Freude ist. Genauso haben wir uns abgedankte Offiziere und Faschisten immer vorgestellt. Sein ideologischer Gegenspieler, der pazifistische Journalist Franz, ist ein flacher Thesenritter. Michael Kind macht ihn nicht interessanter. Ähnliches gilt für Sladeks verhärmte Geliebte (Christine Gloger) und die Hakenkreuzler: saubere schauspielerische Pflichterfüllung, mehr nicht.

Fritz Marquardts Inszenierung ist kein Genußmittel und kein Theaterjahrhundertereignis, sie wird, wie die meisten Inszenierungen dieses Regisseurs, kein Massenpublikum verführen, aber sie ist lakonisch, bedrückend und todtraurig, und das genügt. Peter Laudenbach

Ödön von Horváth: „Sladek – oder Die schwarze Armee“. Mit Hans Fleischmann, Christine Gloger, Michael Kind, Martin Seifert, Dieter Knaup u.a.; Regie: Fritz Marquardt; Bühne: Matthias Stein. Täglich (außer 19. April) bis 25.4. im Berliner Ensemble, 19.30 Uhr