Tropen-Toni, lateinamerikanisch

In Pino Solanas' „Die Reise“ fahren die schönen Wilden Mountain-Bikes  ■ Von Bert Hoffmann

Es ist was faul im Staate Argentinien. Die verstaubten Porträts der Großen Männer fallen von den Wänden, ihre protzigen Goldrahmen krachen auf den Boden, das ganze Schulgebäude schwankt wie ein Schiff in stürmischer See. Bald wankt ganz Feuerland, jener eisige Südzipfel des Landes und des Kontinents. Das Meer, die Berge und die Stadt kippen von links nach rechts und von rechts nach links, und mit jeder imaginären Sturmwelle werden die Menschen in den Straßen auf die andere Seite geschleudert.

Nur weg hier. Der junge Held des Films, Martín Nunca (Walter Quiroz), schwingt sich auf sein Mountainbike und flieht gen Norden. Doch die endlose Pampa ist für 'n Appel und 'n Ei verhökert worden. Die einstige Schaffarm heißt „New Patagonia“: To hell with sheep und penguins, erklärt ihm väterlich einer der Arbeiter; jetzt geht's hier um Öl und um Big Money. Für die Ausländer. Den Argentiniern hingegen steht das Wasser bis zum Hals: Vor Buenos Aires sind Dörfer und Häuser kilometerweit überflutet. Und die Regierung des „Doktor Frosch“ tut nichts, als die Segnungen des freien Wassers zu preisen: „Wirf Dich ins Wasser und schwimm!“, verkündet der Präsident seinem Volke euphorisch. Er selbst freilich watschelt mit großen Schwimmflossen einher. Im Zentrum von Buenos Aires hat die Flut derweil die Abwässer hochsteigen lassen, die Stadt ersäuft in ihrer eigenen Scheiße.

„Die Reise“ heißt der neue Film des Argentiniers Fernando „Pino“ Solanas, der seit fast drei Jahrzehnten zu den großen Filmemachern Lateinamerikas zählt („Die Stunde der Hochöfen“, „Tangos – El exilio de Gardel“, „Sur“). Der Film ist – in seinem ersten Teil – eine fulminante, surreal überspitzte Abrechnung mit einer neoliberalen Politik, die im Namen von Fortschritt und Freiheit den Völkern des Kontinents eine erbärmliche Gegenwart bringt. Und mit ihren Politikern: In der Figur des „Doktor Frosch“ hat Solanas dem argentinischen Präsidenten Carlos Menem ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt, das die Kanaille bis zur Kenntlichkeit entstellt.

Nur vier Jahre zuvor hatte Solanas, seit Jahr und Tag dem links- nationalistischen Flügel der peronistischen Bewegung treu, noch die Videoclips für den Wahlkampf des Peronisten Menem gedreht. Als dieser nach seinem Wahlsieg jedoch alle sozialen Versprechen fahren ließ und zum glattesten Wendehals des Kontinents avancierte, wurde Solanas zum unerbittlichen Kritiker seines „Verrats“ und der ausufernden Korruption. Die Reaktion war brutal: Am 22. Mai 1991, als Pino Solanas nach einer Sichtvorführung der „Reise“ das Kopierwerk verließ, schoß ihm ein Killer-Kommando sechs Kugeln in die Beine. Monatelang war Solanas ans Bett gefesselt. Beweise dafür, daß das Attentat auf direkte Order Menems geschah, gibt es nicht – doch die Regierung hat auch alles getan, um eine Aufklärung bis heute zu verhindern.

Solanas' neuer Film jedoch beschränkt sich nicht auf ein drastisches Sittenbild dieser argentinischen Gesellschaft (in dem sich ganz Lateinamerika wie in einem Zerrspiegel hätte wiederfinden können). Der Titel kündigt es bereits an: Wie weiland der junge Argentinier Ernesto Guevara mit dem Motorrad aufbrach, um seinen Kontinent zu entdecken, so schickt Solanas seinen jungen Helden von Buenos Aires weiter auf Entdeckungsreise durch Lateinamerika.

Doch wo den Che sein Trip schließlich zur kubanischen Revolution führte, versandet Solanas' Reise seltsam still im Touristischen. Am Ende erscheint der Film weniger als das große lateinamerikanische Roadmovie, denn als alternatives Pendant zum Fernweh-Schinken „Panamericana – Traumstraße der Welt“.

Da fehlt der Kamera jegliche Distanz, wenn der junge Held, piratengleich ein Tuch um den Kopf geschlungen, den Amazonas hochfährt, als sei er gerade der Bacardi- Reklame entstiegen. Oder wenn der junge Argentinier aus gutem Hause sein Mountainbike parkt, um mit den Indios der peruanischen Anden die gemeinsame Identität zu entdecken.

Mit üppigen Bildern will Solanas die „unvollendete“ Einheit Lateinamerikas als auch politischen Gegenentwurf herbeifilmen. Doch während das Pathos wächst, gehen dem Filmemacher dabei genau jene Ironie und Leichtigkeit verloren, die den Film in seiner bitterbösen Zerstörung der herrschenden Fassaden auszeichnen.

Bei seiner Premiere in Cannes im letzten Jahr erhielt „Die Reise“ den Preis für die beste Technik. Aber wo Solanas anfangs mühelos ganz Feuerland in ein Schiff in Seenot verwandelte, versagt ihm auf dem touristischen Höhepunkt einer jeden Null-Acht-Fünfzehn- Südamerika-Reise seine Kunst: Die Kamera zeigt die tausendfache Postkartenansicht der Inka-Stadt Macchu Picchu – und in banaler Filmschrift wird freundlicherweise eingeblendet, was wir hier sehen: „Macchu Picchu“.

„Die Reise“. Drehbuch, Produktion, Regie: Fernando E. Solanas. Musik: Astor Piazzolla, Kamera: Felix Monti. Mit: Walter Quiroz, Dominique Sanda, Soledad Alfaro, Ricardo Bartes. Argentinien, 1992, 130 Min.