: Aus der Not eine Tugend machen
Wie ein kleines Theater in Magdeburg exemplarisch seinen Weg geht ■ Von Sabine Seifert
In die Schule müssen sie sonst bei Wind und Wetter, aber heute morgen dürfen einige Auserwählte unter Magdeburgs Schülern ins Theater. Zur Probe und unter Lehreraufsicht, versteht sich. Für Wolf Bunges Inszenierung vom „Froschkönig“ wurde das Märchen um die Geschichte vom „Eisernen Heinrich“ erweitert. Auf der Suche nach seinem Herrn, dem Froschkönig, zieht Heinrich durch die Wüste, sucht im Wasserreich und im Himalaya. Zwei Berggipfel aus Tüchern markieren das Gebirge auf der Bühne; Gewitter grollt, die Bergzelte wackeln, und zwei unheimliche Leuchtaugen gehen auf und nieder. Alles auf einmal und zur falschen Zeit. Der Inspizient ist neu, die verabredeten Zeichen sind noch nicht verabredet, und ständig fragt jemand: „In welcher Stimmung sind wir jetzt?“ Auch wenn das Licht gemeint ist, die Stimmung wird jedenfalls zunehmend gereizt und die Probe nach dem sechsten Bild abgebrochen. „Die Techniker müssen erst mitdenken lernen“, sagt der Regisseur hinterher.
Wolf Bunge leitet die Freien Kammerspiele in Magdeburg. Sie sind zwar schon lange kein reines Jugendtheater mehr, aber die theaterpädagogische Arbeit, die Schülerwerkstätten und das Mitmachtheater für Kinder schaffen dem Haus eine solide Basis – und sorgen dafür, daß das Publikum nachwächst. Denn das ambitionierte Programm der „Kammer“ mit zeitgenössischen Stücken und regelmäßigen Uraufführungen (Stefan Schütz, Lothar Trolle, Oliver Bukowski) kommt an. Die Platzausnutzung liege jetzt bei 71 Prozent, sagt der Hausherr, „die Tendenz ist steigend.“ Das Abosystem ist angelaufen, die Probebühne mit ihren 70 Plätzen (der große Saal faßt 300 Personen) rangiert gar bei 90 Prozent. „Wir hatten nur einen wirklichen Flop“, erzählt Wolf Bunge, „das war, als wir uns an einem Musical versucht haben.“
Während man ringsum in der ostdeutschen Provinz der Meinung zu sein scheint, nur mit der „Linie 1“ sei das Theater noch zu retten, geht das junge 20köpfige Ensemble der Freien Kammerspiele Magdeburg den umgekehrten Weg. „Aus der Not eine Tugend machen“, nennt Wolf Bunge sein Vorhaben der Privatisierung des Theaters und setzt hinterher: „Die ganze Bürokratie hindert doch sehr.“ Aber das Stichwort Privatisierung ist nicht ungefährlich. Es könnte falsche Hoffnungen in Politikerköpfen wecken, die kommunalen Haushalte von der Theaterförderung entlasten zu können. „Die Theater bleiben öffentlich, sie bekommen nur eine andere Wirtschaftsform“, erläutert der in Düsseldorf ansässige Theaterexperte Rudolf Sauser, der gerade mit einem Kollegen im Auftrag der Landesregierung einen Vorschlag zur Strukturreform der fünfzehn sächsisch-anhaltinischen Theater erarbeitet hat. Auch Wolf Bunge denkt bei Privatisierung nicht an irgendwelche ominösen Sponsoren, sondern hat einen Grundlagenvertrag des Theaters mit der Stadt vor Augen, der die derzeit aufgebrachten Haushaltsmittel (1992 nur 5,5 Millionen Mark) in eine GmbH oder andere gemäße Rechtsform überführt. „Voraussetzung ist, daß sich die Stadt weiter beteiligt“, betont der Intendant.
Was würde sich also durch eine Privatisierung ändern? „Die Einsparungen sind mittelfristiger Natur“, gibt Wolf Bunge zu. „Das Theater wäre aus dem städtischen Verwaltungsapparat herausgelöst, denn solange wir uns nicht selbst bewirtschaften dürfen, müssen wir alles bei den verschiedensten Ämtern beantragen lassen.“
Ein Ziel ist es, die Personal- und Sachkosten deckungsgleich zu machen. Die bei einer Inszenierung eingesparten Sachkosten (etwa beim Bühnenbild) dürften dann auf den Personaletat (beispielsweise beim Engagement von Gästen) übertragen werden. Außerdem streben die Kammerspiele die freie Auftragsvergabe sowie die Übertragbarkeit von Haushaltsmitteln ins nächste Jahr an. Wolf Bunge ist sich sicher, daß die genannten Punkte letztlich sogar bei Beibehaltung des Status quo geändert werden könnten: „Die Möglichkeiten des kameralistischen Systems sind noch gar nicht ausgeschöpft.“
Auch Klaus Pierwoß, Vorsitzender der Dramaturgischen Gesellschaft, weiß: „Entscheidend ist nicht die Rechtsform, sondern der kulturpolitische Wille, die Dinge flexibel zu handhaben.“ Er hat vor kurzem die Zusammensetzung der von den verschiedenen Ländern eingesetzten Expertenkommissionen kritisiert: „Die künstlerische Seite fehlt.“ Verwaltungsfachmann Rudolf Sauer und sein Kollege Gerd-Theo Umberg haben sich mit einem Juristen, einem Unternehmens- und einem Personalberater zur sogenannten „Theater Consulta“ zusammengeschlossen und werden nun als Geburtshelfer gewünschter Strukturreformen im Theaterbereich von Ost-Bundesland zu Ost-Bundesland weitergereicht. Die Experten stehen per Vertrag den sächsisch-anhaltinischen Kommunen im kommenden Jahr als Berater zur Seite. Nun halten die Städte den Schwarzen Peter in den Händen.
Das sich Magdeburg tatsächlich zwei Schauspielensembles leisten will, habe bisher niemand in Frage gestellt, meint Stadtrat Rainer Löhr, Lehrer im Hauptberuf, der die vakante Stelle des Kulturdezernenten versieht. „Die beiden Häuser haben ein völlig unterschiedliches Profil.“ Die kleinen Kammerspiele und ihre große Konkurrenz: das von Max Hoffmann geführte Theater der Landeshauptstadt, ehemals Maxim-Gorki-Theater. Es umfaßt die drei Sparten Musiktheater, Schauspiel, Ballett; man setzt dort allerdings lieber auf Schwänke, Musicals und Operetten. Vor kurzem hat die Stadtverordnetenversammlung für den Neubau des 1990 abgebrannten Theaters die stolze Summe von 90 Millionen Mark bewilligt.
Auch die Freien Kammerspielen gehörten einst als vierte Sparte – Jugendtheater – zum großen Haus. Wie wurde Wolf Bunge, heute 42 Jahre alt, ihr Intendant? Nach harten Lehrjahren als beschäftigungsloser, aber festangestellter Regisseur am Berliner Ensemble inszenierte Bunge 1987 „Der Auftrag“ von Heiner Müller an den Kammerspielen in Magdeburg. Die Aufführung war heftig umstritten, aber das Ensemble wollte mit ihm weiterarbeiten. So kam es in den wirren Zeiten der Wende und aus Protest gegen den alten SED-Intendanten Schneider zu jenem „Husarenstück“, das den Freien Kammerspielen die Unabhängigkeit und Wolf Bunge die Intendantenverantwortung brachte.
Das Publikum ist jugendlich. Außer Theater und Tanztheater finden Film- und Jazzabende statt. In Zukunft will man regelmäßig Asylbewerber, die im Magdeburger Umland einquartiert sind, zu Vorstellungen einladen. Aber auch in den Freien Kammerspielen sind Baumaßnahmen fällig, die noch aus Landes- und Bundesmitteln bestritten werden. Das Land will sich langfristig zurückziehen. Wie Dr. Hans-Peter Timm, Theaterreferent im Kulturministerium, erklärt, denke man eher an eine projektgebundene Förderung der im Landeszentrum für Spiel und Theater gebündelten theaterpädagogischen Bemühungen. Auch die Bundesmittel aus der berühmten „Übergangsregelung“ werden nicht mehr ewig fließen. Die dann fehlenden 20 bis 30 Prozent wird die Stadt aufbringen müssen – GmbH hin oder her.
Stolz führt Wolf Bunge durch das schöne Haus, das in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als Freimaurerloge erbaut worden ist. So ist auch die ungleiche Zahl der Treppenstufen im großen Treppenhaus, nämlich einmal zwölf und einmal vierzehn, zu erklären; die Freimaurer fürchteten die Zahl dreizehn. Beim Abkratzen der Farbe im Treppenhaus haben Theatermitarbeiter Wandgemälde entdeckt, der Denkmalschutz wurde eingeschaltet. Als das Haus als Freimaurerloge ausgespielt hatte, diente es als Lazarett und als Kino, erst ab 1946 wurde es zum Theater. Und das sollte es auch bleiben können.
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