Umgekehrte Diskriminierung?

Zwei Bücher zur Kontroverse um Quoten und Gleichberechtigung  ■ Von Horst Meier

Die Sache der Frauenemanzipation ist längst zum politischen Allgemeinplatz geworden. Der pflegeleichte Konsens ist freilich schnell dahin, sobald widerstreitende Interessen auf dem Spiel stehen. Wo angestammtes Terrain gefährdet ist, nimmt Mann leicht übel– etwa in der Quotenfrage. Was zugunsten ehemaliger Soldaten, Spätheimkehrer oder Schwerbehinderter keinen jemals aufstörte, wird im Falle der Frauen schrill als Verfall von Gleichheit und Leistungsprinzip ausgerufen.

Die Philosophin Beate Rössler hat in dem von ihr edierten und mit einem Überblick versehenen Band „Quotierung und Gerechtigkeit“ die moralphilosophischen Aspekte dieser Kontroverse am Beispiel der USA dokumentiert. Der Sammelband enthält elf recht unterschiedliche Beiträge, die mit der Quotendiskussion ein altes Thema variieren: Was ist Gerechtigkeit, was Gleichheit in einer von Herrschaft und Ungleichheit durchwobenen Gesellschaft? Die Forderung nach Quotierung ist Reflex auf eine gesellschaftliche Situation, in der bei weitgehender rechtlicher Gleichheit bestimmte Gruppen im Hinblick auf die Besetzung verschiedener Berufsfelder signifikant unterrepräsentiert sind: Diskriminierung kann bekanntlich auch unter dem Schutz formaler Gleichheit fortschwelen.

Es liegt nahe, die Kritik solcher Verhältnisse mit vergangenheitsbezogener Kompensation zu begründen und die männlichen Nutznießer von Diskriminierung in die Pflicht zu nehmen. Dieses kompensationstheoretische Argument von Judith Jarvis Thomson hinterfragt Robert Simon anhand der systematischen Unterscheidung zwischen individueller und kollektiver Ebene. Dies erhellt, daß jedwede Quotierung, gerade weil ein individueller Ausgleich nicht intendiert ist, auf eine gruppenbezogene „Haftung“ abstellen muß.

Quoten relativieren einen Glaubenssatz der Leistungsgesellschaft: das „meritokratische“, also auf Verdienst beruhende Verteilungsprinzip von Geld, Macht und Prestige und seine keineswegs nur objektiven Maßstäbe. Thomas Nagel beleuchtet in einem der scharfsinnigsten Beiträge des Bandes diesen brisanten Aspekt. Daß Frauen trotz gleicher Qualifikation oft das Nachsehen haben, belegt andererseits, wie sehr Quoten dem Leistungsprinzip zuträglich sein können. Während Ronald Dworkin „umgekehrte Diskriminierung“ zu rechtfertigen sucht, warnt Lisa Newton vor der Gefahr, potentiell alle würden, sobald formale Gleichheit erst einmal zurückgenommen sei, von Rechtssubjekten zu „Bittstellern für Vergünstigungen“. Aufs Ganze gesehen bietet der Band einen Einblick in Grundprobleme der Quotierung – weitgehend beschränkt allerdings auf die US-amerikanische Diskussion.

Wo von „jedermann“ eine Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung erhoben werden kann, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG), ist der Weg nach Karlsruhe nicht weit. Art. 3 Abs. 2 GG bestimmt ebenso lapidar wie kontrafaktisch provozierend: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Die einschlägige Formulierung des Abs. 3 lautet: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes [...] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Was folgt aus jenem Gleichberechtigungssatz? Mit der legislativen Umsetzung von Frauenförderung und moderaten Quoten in der Arbeitswelt stellen sich juristische Fragen, die den herkömmlichen Horizont bloßer Diskriminierungsverbote überschreiten.

Die Verfassungsjuristin Ute Sacksofsky setzt eben hier an und entwickelt in ihrer luziden Studie „Das Grundrecht auf Gleichberechtigung“ ein grundlegend neues Verständnis von Art. 3 Abs. 2 GG. Anhand der Analyse von Verfassungsrechtsprechung und Fachliteratur zeigt sie, daß das heute vorherrschende juristische Verständnis der Gleichberechtigung diese auf das Differenzierungs- und Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 verkürzt. Dermaßen eingeebnet, läuft das Grundrecht auf Gleichberechtigung leer, ja erscheint überflüssig.

Diesem Befund gilt eine souverän argumentierende Kritik, die aus der einschlägigen Diskussion in den Vereinigten Staaten entscheidende Impulse bezieht: Ein spannendes Kapitel, in dem die Kontroverse um Rassismus und später auch Sexismus bis Ende der achtziger Jahre skizziert wird, führt zu zwei grundverschiedenen Sichtweisen: Während das Diskriminierungsverbot auf das Individuum und formale Gleichheit abstellt, hat eine gruppenbezogene Perspektive die konkrete historische Unterdrückung einer bestimmten Gruppe im Blick. Dieser Wechsel von der Täter- zur Opferperspektive ermöglicht den Zugriff auf die strukturelle Ebene mittelbarer Benachteiligungen – auf jene Felder also, die heute das eigentliche Problem ausmachen.

Der so geöffnete Problemhorizont erhellt die Interpretation des Grundgesetzes; die herausgearbeitete Unterscheidung wird überzeugend auf ein differenzierendes Verständnis von Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG bezogen. Ihr neues Konzept des (anfänglich hochumstrittenen) Gleichberechtigungssatzes formuliert die Autorin insbesondere unter Rekurs auf die Entstehungsgeschichte als gruppenbezogenes Dominierungsverbot. Dieses unter den Vorzeichen männlicher Dominanz ausschließlich Frauen zustehende, asymmetrische Grundrecht intendiert effektive Gleichstellung. Im Gegensatz zu frauenpolitisch gutgemeinten Ansätzen, die einen vagen Verfassungsauftrag konstruieren, ist das Dominierungsverbot als Abwehrgrundrecht präzisiert. Frauen können demnach gegen alle Gesetze klagen, die sie als Gruppe nachteilig betreffen. Der Staat muß alles unterlassen, was Frauen an die tradierte Rolle fesselt oder an diese Nachteile knüpft.

So verstandene Gleichberechtigung der Frau geht dem (Männern wie Frauen zustehenden) Grundrecht des Art. 3 Abs. 3 auf Nichtdiskriminierung vor und rechtfertigt im Ergebnis dessen Einschränkung. Wo immer Gesetze den Schutzzweck der Gleichberechtigung befördern, können sich Männer also nicht darauf berufen, sie würden ihrerseits „umgekehrt“ diskriminiert. Das OVG Münster hat in den vergangenen Jahren mehrmals das Verfassungsgericht mit der Frage konsultiert, ob Quotenregelungen im öffentlichen Dienst Männer diskriminierten. Ein nunmehr anhängiger sog. Vorlagebeschluß (vgl. Art. 100 Abs. 1 GG) wird in Karlsruhe geprüft. Für das zu erwartende Grundsatzurteil gibt die Entscheidung zum (aufgehobenen) Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen vom 18.1.1992 Anlaß zu verhaltenem Optimismus.

Dabei dürfen die emanzipationshemmenden Widerstände freilich nicht unterschätzt werden. Schließlich befinden noch immer allenthalben Männer über den Abbau ihrer Vorherrschaft, wie die Autorin betont. Eines aber scheint spätestens mit der Vorlage dieser wegweisenden Studie klar: Die Zeit der verfassungsjuristischen Rückzugsgefechte ist vorbei; Männer werden künftig in Sachen Gleichberechtigung politisch Farbe bekennen müssen.

Beate Rössler (Hrsg.): „Quotierung und Gerechtigkeit. Eine moralphilosophische Kontroverse“. Campus, Frankfurt/M., New York 1993, 214S., 38 Mark; erscheint Ende Mai

Ute Sacksofsky: „Das Grundrecht auf Gleichberechtigung. Eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes“. Nomos Verlag, Baden-Baden 1991, 410 S., 98 Mark