Hoffen auf das Wundermittel

Lutz Voigt, erkrankt an Multipler Sklerose, läßt ein Medikament an sich selbst testen  ■ Von Marc Wiese

Die durchsichtige Flüssigkeit L.V.; No. 463; PAV 53 wird für die nächsten drei Stunden in seine Blutbahn fließen. Lutz Voigt weiß das. Die Ärztin weiß das. Doch mehr wissen sie beide nicht. Der 26jährige sitzt in einem alten Krankenhausstuhl mit überlanger Rückenlehne.

Lutz Voigt ist seit fünf Jahren an Multipler Sklerose erkrankt. Bis heute gilt die unter dem Kürzel MS gefürchtete Krankheit als unheilbar. Sie führt dazu, daß sich die Betroffenen nach und nach immer schlechter bewegen können. Allein in Deutschland haben rund 150.000 Menschen MS. Die Ursachen der Krankheit sind umstritten, ihr Verlauf sehr unterschiedlich. Oft zieht sie sich über Jahrzehnte hin. „Bei mir geht es sehr schnell. Wenn meine Erkrankung so weiterverläuft, liege ich in einem Jahr nur noch im Bett“, sagt Lutz Voigt. Fast beiläufig.

Er will kein Mitgefühl. Er hat schon alle möglichen Medikamente versucht. „Jetzt bin ich es leid, irgendwelche Pillen zu schlucken, bei denen die Liste mit den Nebenwirkungen auf dem Waschzettel so lang ist“, sagt er mit Nachdruck. Und streckt dabei die Arme aus, als hielte er ein DIN-A2-Plakat in den Händen. Warum er sich ein Serum injizieren lasse, von dem die Nebenwirkungen noch völlig unbekannt seien? Er quittiert sarkastisch: „Ich bin ein Spieler.“

Lutz Voigt nimmt an einer großangelegten Klinikstudie der Behringwerke aus Marburg teil. Sie begann im letzten Oktober und dauert zwei Jahre. Er ist einer von 108 PatientInnen. Die Behring AG führt die Studie in Zusammenarbeit mit den Universitätskliniken in Bonn, Bochum, Hamburg, Hannover, Homburg, Würzburg, Basel und Paris durch. Mit der Forschungsarbeit soll geprüft werden, inwieweit der Stoff Deoxyspergualin (DSG) als Heilmittel gegen Multiple Sklerose taugt.

Lutz Voigt kommt aus Syke. Das ist eine Kleinststadt in der Nähe von Bremen. Vom einzigen Hügel der Gegend hat man eine hervorragende Fernsicht. Bis zum Ausbruch der Krankheit studierte er Architektur. Eingeschrieben ist er immer noch. Er trägt lockige Haare, Bartstoppeln und eine dunkle Windjacke.

Sein Vater bringt ihn mit dem Auto zu dem kleinen Bahnhof des Ortes. Der Nahverkehrszug rollt ein. Er zieht sich an den kalten Metallstangen der Zugtür hoch. Sein Vater bekommt ihn im Rollstuhl nicht über die zwei hohen Stufen und durch die enge Tür. Im Hamburger Hauptbahnhof zeigt Lutz auf ein überdimensionales, elektronisches und grell blinkendes Roulettespiel an der Wand. „Ich als Spieler muß da immer hingucken“, sagt er.

Und dazu hat er oft Gelegenheit. Jeden Tag, an dem er eine Infusion erhält, fährt er von Syke nach Hamburg und zurück. Rund 1.500 Kilometer in der Woche. Ein Taxi bringt ihn vom Bahnhof Hamburg-Altona zur Uni-Klinik Eppendorf. Der Fahrer ist ein typisches Hamburger Original. Weiße, dichte, struppige Haare und verwegener Bart. Er diskutiert mit Lutz über das Für und Wider von Rollstühlen ohne Motor, mit Elektromotor oder mit Benzinmotor. Die Neurologie in Eppendorf: ein alter, verschachtelter, dunkelroter Backsteinbau mit der Atmosphäre und dem Charme einer alten Dorfschule. Weiträumige Treppenhäuser, grauer Linoleumboden, gußeiserne Geländer und hohe Fenster. Im Fahrstuhl hat neben die Notruftaste jemand die Buchstaben „RTL“ geschrieben. Lutz amüsiert sich darüber.

Die erste Phase seiner Studie dauert fünf Monate. Insgesamt zwanzigmal wird ihm über drei Stunden die Prüfungsflüssigkeit injiziert. Nach einem Zufallsprinzip hat man Lutz und die anderen TeilnehmerInnen mit einer Codenummer versehen und in drei Gruppen eingeteilt: zwei verschiedene Dosierungen DSG und ein Scheinpräparat.

„Nach der ersten Infusion habe ich mich gefragt: Ist mir schwummrig? Habe ich etwas bekommen?“ erzählt Lutz Voigt. Wie alle hoffte er, nicht in der Placebo-Gruppe zu sein. Das deutsche Arzneimittelgesetz schreibt das sogenannte Placebo-kontrollierte Doppelblindverfahren für die Prüfung neuer Wirkstoffe vor. Es soll die Suggestiveffekte ausschließen. Auch die Neurologin weiß nicht, was sie Lutz Voigt spritzt. Dort, wo auf den Infusionsflaschen normalerweise der Inhalt genau angegeben ist, klebt ein gelbes Etikett mit der Aufschrift L.V., No. 463, PAV 58.

Wer nun wirklich was bekommt? Nur die Behring AG ist im Bilde. Dort leitet Dr. Klaus Theobald die Studie. „Selbst ich bin nicht informiert, wer was erhält. Das wissen nur eine Handvoll Leute der Behringwerke“, sagt er. Die Untersuchungsergebnisse tragen die MedizinerInnen unter der jeweiligen Codenummer in ein Buch ein. Die Bücher geben die Kliniken an das Unternehmen weiter. Alle vier Wochen werden von den PatientInnen radiologische Aufnahmen gemacht. Die Auswertung macht der Pharmakonzern.

Lutz Voigt ist auf der Rückfahrt. Der Zug fährt direkt bis Syke. Der 26jährige sitzt im letzten Waggon. „Als ich erfuhr, daß ich an der Studie teilnehmen kann, war ich immerhin schon eine Runde weiter“, sagt er. Der Weg dahin war nicht einfach: Sein Krankheitsherd war auf der radiologischen Aufnahme zu klein. Er wurde abgelehnt. Die Zulassungsbedingungen verlangten eine „aktive fortgeschrittene Erkrankung“. Sein Zustand war für die WissenschaftlerInnen nicht forschungswürdig. Sechs Wochen später fiel jemand aus, und Voigts Bild zeigte zwei Herde. „Ich war im Viertelfinale. Mal sehen, wie weit ich komme“, sagt er munter. Die Schaffnerin kommt vorbei, kontrolliert die Karte und informiert ihn, daß die letzten beiden Waggons in Bremen abgehängt werden. Der Gang ist für den Rollstuhl zu eng. Er hält sich an beiden Seiten an den Gepäckgittern der Sitze fest und versucht nach vorne zu laufen. Zieht sich im fahrenden Zug langsam weiter. Sitz für Sitz. Die Leute gucken angestrengt aus dem Fenster. Nach einem Abteil gibt er auf. Sein lockerer Tonfall ist verschwunden. Er schaut auf seine auffallend dünnen Beine und murmelt: „Die psychische Belastung ist so groß, daß ich sie schon gar nicht mehr erfassen kann.“ Das Bild vom Spieler ist ein Schutzschild für ihn.

Ein Münchner Arzt, Niels Francke, selbst an MS erkrankt, brachte DSG mit seinem Buch Geschenktes Leben in die öffentliche Diskussion. Aus der Regenbogenpresse erfuhr Lutz Voigt Ende 1991 erstmals davon. Nachdem er über den Verlag die Adresse herausbekommen hatte, ließ er sich das Werk von dem Mediziner zuschicken. „Nach dem Buch war ich total gut drauf. Ich bin mit Freunden nach Ägypten geflogen, habe mich verliebt, ich war König“, schwärmt er. Ähnlich viel Hoffnung machte der Autor Betroffenen mit seinen Vorträgen, die er in ganz Deutschland abhielt. Er hatte sich in einem Selbstversuch über zwei Jahre lang DSG gespritzt. „Eine revolutionäre Änderung, ganz unglaublich. Die Heilungsphase hält immer noch an“, sagt Francke.

Das Buch ist unter Fachleuten umstritten. „Man kann den Stoff nicht aufgrund eines Selbstversuches beurteilen. Dr. Francke zieht durch das ganze Land und wirbt in bayerischer Bierzeltatmosphäre für DSG. Er spricht von einer Besserung, die gar nicht da ist“, kritisiert Professor Seidel, ärztlicher Beirat der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft. Die bunten Blätter feierten trotzdem das „neue Wundermittel DSG“.

Allerdings konnte zunächst niemand Franckes Therapie wiederholen, obwohl der Stoff seit über zehn Jahren bekannt ist. Der Grund: DSG ist in keinem Land der Welt legal im Handel. Es erfüllte die Erwartungen des Entdeckers H. Iwasawa nicht und verschwand nach kurzer Zeit wieder vom Markt. Der Japaner hatte es 1982 zur Anwendung bei Nierentransplantationen entwickelt. DSG sollte die Abwehrreaktionen des Körpers abschwächen, die dabei auftreten.

Niels Francke besorgte sich den Stoff auf dunklen Wegen. Wie viele ExpertInnen ging er davon aus, daß bei MS die weißen Blutkörperchen verrückt spielen. Sie bekämpfen eigentlich Bakterien. Im Körper einer MS-Kranken zerstören sie die fettartige Umhüllung der Nervenfasern. Die Folge: Kurzschlüsse im Gehirn und im Rückenmark.

Hilft DSG dagegen? Inzwischen haben sich noch weitere MS-Patienten von Francke mit dem Medikament behandeln lassen. Die Erfahrungen sind positiv. Beine lassen sich wieder bewegen, Arme gehorchen wieder, Finger können wieder greifen – ist DSG das Wundermittel, auf das Zehntausende Erkrankte seit Jahren sehnlichst warten? Letztlich kann das erst nach Ablauf einer großangelegten Studie beantwortet werden. Darin sind sich die Fachleute einig. Für die Behring AG geht es dabei um viel Geld. Sie hat eine Lizenz des japanischen Produzenten. Falls das Destillat nach der klinischen Prüfung als Medikament zugelassen wird, hofft das Unternehmen, damit zweistellige Millionensummen zu verdienen. Allein in Deutschland. Die Lizenz gilt für ganz Europa.

Dr. Schulte-Sassen, ehemaliger Vorsitzender der Ethikkommission des Landes Bremen, kritisiert das Fehlen neutraler Kontrollen: „Es ist überhaupt nicht wünschenswert, daß die Pharmaindustrie die Auswertung der Studie macht.“ Die Chemiefirma verlangt zwar das Einverständnis der TeilnehmerInnen, „daß autorisierte Vertreter der Gesundheitsbehörde Einblick in ihre Daten erhalten“. Doch das Bundesgesundheitsamt bekommt nur die Ergebnisse zu sehen. Vorher ist es nicht dabei. Manipulationen seien laut Schulte-Sassen bei Nachahmerstudien an der Tagesordnung. In wichtigen Projekten seien negative Folgen aber selten.

Er räumt ein: „Wenn eine deutsche Firma die Studie sauber durchführt, dann Behring.“ Womit er wohl nur die Frage der Manipulation meint. Das Werk finanziert bei der rund sechs Millionen Mark teuren Forschung nämlich nichts, was über das wissenschaftliche Interesse hinausgeht.

Lutz Voigt bekommt kein Geld. „Wenn Studenten an einer Studie mitmachen, werden sie bezahlt. Wir sind Betroffene, wir müssen es machen. Ein dankbarer Fundus für die Behringwerke“, sagt er. Er sitzt in seinem Zimmer im Erdgeschoß des Elternhauses.

Viel Holz, viel Licht und viele Bücher. Hier erwacht er morgens unter einer Plexiglasscheibe. Sie hängt einen halben Meter über dem Kopfkissen. Ein aufgeschlagenes Buch liegt darauf, mit der Schrift nach unten. „Ich kann meine Arme nicht mehr lange hochhalten. So muß ich nur die Seiten umschlagen“, erklärt er. Und sagt schmunzelnd: „Vielleicht sollte ich es patentieren lassen.“

Nach 18 Infusionsterminen wartet er nicht mehr darauf, ob ihm schwummrig wird. Es ist keine Verbesserung sichtbar. „Falls es ein Scheinpräparat war, könnte ich den Wirkstoff noch nachträglich erhalten. Vielleicht stoppt er die Krankheit“, hofft er. Er denkt nicht an eine Heilung. Eine therapeutische Beratung hat man ihm nicht angeboten. Er muß seine An- und Abfahrt aus eigener Tasche zahlen. Wie alle Patienten in Hamburg. Auch Klaus aus Nürnberg und Thomas aus Ostberlin.

Lutz Voigt zögert einen Moment und sagt leise: „Für das Unternehmen sind wir menschliche Versuchstiere.“