■ Faktoren, die den Ausgang des Ost-Tarifkampfs bestimmen
: Die Rückkehr des „politischen Lohns“

Daß die Lohnhöhe den Kosten für die Reproduktion der Arbeitskraft ebenso folgt wie der konjunkturellen Lage und der Kampfkraft der organisierten ArbeiterInnenschaft, ist eine nicht nur Marxisten teure Erkenntnis. Schwieriger wird's schon, wenn es gilt, den Einfluß politischer Großkonstellationen in Rechnung zu stellen. Rudolf Hilferding verkündete in den 20er Jahren den in Kiel versammelten, staunenden Sozialdemokraten seine Theorie vom „politischen Lohn“, nach der, Folge der kapitalistischen Konzentrations- und Zentralisationsprozesse (dem Weg zum „Generalkartell“), es künftig hauptsächlich von der Machtverteilung im Staat abhängen werde, mit wieviel Reichsmark der Lohnabhängige am Wochenende kalkulieren dürfe. Daher die Notwendigkeit sozialdemokratischer Beteiligung an der Regierung.

Die gegenwärtige Auseinandersetzung um den Stufen-Tarifvertrag in der Metallindustrie rollt in ganzer Bandbreite die Frage nach dem Einfluß politischer Faktoren auf die Lohnhöhe wieder auf. Denn die Forderung nach Angleichung der Lebensverhältnisse, damit auch der Löhne, folgte dem politischen Grundsatzentscheid der Währungsunion, folgte einer Politik, die Vereinigung der deutschen Staaten um jeden Preis rasch über die Bühne zu bringen. Den Arbeitgeberverbänden, darunter auch Gesamtmetall, waren die ökonomischen Folgewirkungen dieser Entscheidungen noch 1991 voll bewußt. Sie bezeichneten es damals als unzumutbar, wenn die Lohnentwicklung im Osten – ausschließlich an ökonomischen Indikatoren orientiert – noch nach der Jahrtausendwende lediglich bei 50 Prozent der Westlöhne landen würde. Solche Erklärungen verdankten sich, wir ahnen es, weniger nationalem Überschwang als der Einsicht ins Notwendige. Denn zur „Kultur des Marktes“ Modell Deutschland gehören nun mal stabile soziale Beziehungen, die mit gespaltenen Lebensverhältnissen in Ost und West nicht zu machen sind.

Wenn jetzt die Produktivitätsentwicklung bzw. die Lohnstückkosten von der „Gesamtmetall“ zum alleinigen Kriterium für Lohnsteigerungen erhoben werden, so hat dieser Entscheid auch politische Auswirkungen. Die vermeintliche ökonomische Rationalität des Unternehmerverbandes wendet sich gegen ihn selbst. Er untergräbt die Legitimität dieser Interessenvertretung — auch in den Augen zahlreicher Unternehmer. Denn die einzelnen Kapitalisten werden sich, je nach ihrer ökonomischen Potenz, entweder mit den Gewerkschaften arrangieren oder ihren Belegschaften die Lohnhöhe diktieren — auf alle Fälle wird der Gesamtverband der Metallkapitalisten seine politische Funktion einbüßen.

Mögen die Ideologen des freien Spiels der Marktkräfte auch in der Öffentlichkeit dominieren, die Realitäten Ostdeutschlands zwingen den ökonomischen Akteuren eine politische Vorgehensweise auf. Das betrifft eine staatliche Intervention zur Sicherung des industriellen Restbestands ebenso wie die Sicherung der Lebensverhältnisse der Beschäftigten. Wenn daher die Gewerkschaften sich als zu schwach erweisen sollten, die Unternehmer wirksam an ihre eigenen Einsichten aus den Jahren 1990/91 zu erinnern, bleibt der Bundesregierung im Interesse der Stabilität keine Alternative zur Lohnsubventionierung. Und dies — trotz Hilferding — auch ohne große Koalition. Christian Semler