Alle Zeichen stehen auf Streik

Der IG-Metall-Führung lagen bis gestern nachmittag aus allen ostdeutschen Bezirken die Anträge auf Urabstimmung vor. Daß die Gewerkschaft die erforderliche Mehrheit für einen Streik bekommt, steht nach der hohen Beteiligung an den Warnstreiks außer Zweifel.

Kurt Biedenkopf, der als Vermittler im Tarifkonflikt der ostdeutschen Metallindustrie gescheiterte sächsische Ministerpräsident, wird seine Ankündigung wohl wahr machen müssen. In einem Leserbrief an die FAZ hatte er in der letzten Woche angekündigt, er werde den Arbeitgebern „noch weit massiver als bisher“ ihre Bewegungs- und Kompromißlosigkeit vorhalten, wenn sie bis zum heutigen Tag kein neues Angebot im Tarifkonflikt um die Angleichung der ostdeutschen Metallerlöhne vorlegten.

Gestern nun hatten sich die Spitzengremien von Gesamtmetall und IG Metall versammelt, um ihre Strategien im kommenden Arbeitskampf festzuklopfen. Ein neues, für die Gewerkschaft verhandlungsfähiges Angebot hatten die Arbeitgeber bis zum frühen Nachmittag nicht vorgelegt. So scheint alles darauf hinauszulaufen, daß – wie Biedenkopf in seinem Leserbrief schreibt – „unser aller Arbeit der letzten beiden Jahre auf dem Altar eines Konflikts – und eines Ehrgeizes – geopfert wird, der nicht in Sachsen, sondern in Köln und Frankfurt, derzeit vor allem in Köln steht“ – also dem Sitz der Arbeitgeberzentrale.

Günstige Aktionsmöglichkeiten in Mecklenburg-Vorpommern

Der Vorstand der Industriegewerkschaft Metall ist gestern nachmittag zusammengekommen, um über die vorliegenden Anträge auf Urabstimmung zu entscheiden. Bis Montag morgen lagen derartige Anträge aus den Tarifbezirken Sachsen, Thüringen, Berlin-Brandenburg und aus dem Stahlbereich vor. Gestern hatten dann noch die Tarifkommissionen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen- Anhalt einen entsprechenden Beschluß gefaßt, so daß bis zur Vorstandssitzung der Metaller-Gewerkschaft am Nachmittag aus allen ostdeutschen Bezirken Anträge vorlagen.

Klar war zu Beginn der Sitzung nur, daß der Antrag aus Sachsen, dem einzigen rein ostdeutschen IG-Metall-Bezirk, vom Spitzengremium der Metallgewerkschaft genehmigt werden würde. Als zweiter möglicher Austragungsort für einen Arbeitskampf wird in der IG Metall der Tarifbezirk Mecklenburg-Vorpommern diskutiert, der auf Grund seiner überwiegend großbetrieblichen Struktur (Werften) relativ günstige Aktionsmöglichkeiten bietet.

Eine gewisse Frist für Kompromisse

Beobachter gehen davon aus, daß die IG Metall als Termin für die Urabstimmung den Beginn der kommenden Woche ansetzt und damit noch einmal eine gewisse Frist für die Kompromißsuche einräumt. Sollte diese Frist ungenutzt verstreichen, wird der Arbeitskampf unmittelbar um den ersten Mai herum beginnen. Ziel des Arbeitskampfes wäre auf seiten der Gewerkschaft, die Arbeitgeber zur Rücknahme ihrer „außerordentlichen“ Tarifvertragskündigung zu zwingen, wobei allerdings schon während des gescheiterten sächsischen Vermittlungsversuchs erhebliche Kompromißbereitschaft über eine zeitlich gestreckte Lohnangleichung signalisiert wurde. In seinem Leserbrief an die FAZ offenbarte Biedenkopf bisher unbekannte Einzelheiten. So habe die IG Metall während des sächsischen Vermittlungsversuchs eingewilligt, bei der zum 1. April fälligen Angleichungsstufe auf die Erhöhung bestimmter Lohnnebenleistungen zu verzichten, so daß die reale Lohnsteigerung für die ostdeutschen Arbeitnehmer nur 21 Prozent und nicht wie ursprünglich vereinbart 26 Prozent betragen hätte. Aber auch diese Zugeständnisse wurden von Gesamtmetall damals nicht honoriert.

Daß die Gewerkschaft in den Urabstimmungen die erforderliche satzungsmäßige Mehrheit von 75 Prozent für Kampfmaßnahmen erhalten wird, steht nach der hohen Beteiligung an den Warnstreiks außer Zweifel. Stimmungsbilder aus den ostdeutschen Metallbetrieben schwanken zwischen „heller Empörung“ bis zum realistischen „es geht ja nicht anders“.

Wie dann der Arbeitskampf geführt wird, welche Betriebe in die Streikaktionen einbezogen werden, hängt stark von den bezirklichen Bedingungen ab. Die sind insbesondere in Sachsen eher unübersichtlich: die Autokonzerne, in Sachsen vor allem VW-Mosel (bei Zwickau) haben bereits angekündigt, ihre tarifvertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen. Es dürfte der Gewerkschaft schwer fallen, diese Betriebe in den Streik einzubeziehen. In anderen Betrieben jedoch, die ohnehin unter eklatantem Auftragsmangel leiden und deren Überleben noch nicht gesichert ist, wird die Streikandrohung der Gewerkschaft kaum Druck entfalten können.

Kaum Wille zur Schadensbegrenzung

Derzeit verdichten sich jedoch die Anzeichen, daß der ostdeutsche Arbeitskampf sich nicht auf bestimmte „Pilotbezirke“ begrenzen läßt, in denen der Konflikt stellvertretend für alle anderen ausgefochten wird. Diese Form der Konfliktökonomie, die in bisherigen Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaft und Arbeitgebern seit Jahren geübt wird und auf beiden Seiten zur Schadensbegrenzung beiträgt, setzt den beiderseitigen Willen zur Rückkehr in einen tarifvertraglichen Zustand voraus.

Den Tarifvertrag „von Betrieb zu Betrieb erkämpfen“

Dieser Wille ist aber diesmal bei Gesamtmetall offensichtlich nicht vorhanden. Wenn der Arbeitgeberverband bei seiner derzeitigen Ankündigung bleibt, sich weder am Arbeitskampf noch an der Kompromißsuche im Konflikt zu beteiligen, wird es auch in den von der Gewerkschaft Metall bestreikten Tarifgebieten keinen neuen Flächentarifvertrag geben. Damit entfällt die „Pilotfunktion“ bezirklicher Arbeitskämpfe, weil es nichts auf andere Bezirke zu übertragen gibt.

Die IG Metall hat für diesen vorhersehbaren Fall bereits angekündigt, sie werde den Tarifvertrag „von Betrieb zu Betrieb“ erkämpfen. Dies wird sich nicht auf bestimmte ausgewählte Bezirke begrenzen lassen. Denn auch wenn einzelne Betriebe in den Ländern Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern zur Tarifvertragstreue gezwungen werden können, werden andere Arbeitgeber in diesen Bezirken oder gar in Thüringen oder Sachsen-Anhalt keinen Anlaß sehen, solchen „Pilotabschlüssen“ zu folgen.

Die Metaller-Gewerkschaft stünde dann vor dem Dilemma, daß sie trotz Urabstimmung und Arbeitskampf in den „Pilotbezirken“ letztlich keinen Schritt weiter wäre als anderswo in Ostdeutschland. Sie wäre gezwungen, ihre Streikaktionen auszuweiten und ganz Ostdeutschland mit einer Welle betrieblicher Arbeitskämpfe zu überziehen, um ihre Forderungen – modifiziert durch betriebsspezifische Kompromisse – flächendeckend durchzusetzen.

In Ostdeutschland bahnt sich ein industrieller Großkonflikt an, dessen Ausgang über die künftigen Sozialbeziehungen im vereinigten Deutschland entscheiden wird. Martin Kempe