Krude Mystik, hölzerner Pathos

■ Gero Troikes „Dolgensee, ein Naturalist“. Uraufführung im Deutschen Theater

Nicht sein Werk macht einen Menschen zum Künstler, sondern sein Ruf. Und in den Verdacht, Künstler zu sein, kommt gerade derjenige, der am wenigsten mit der Welt anzufangen weiß, der in ihren Alltäglichkeiten ertrinkt, eigentlich nichts kann und dem schon jedes mögliche Tun unsägliche Qualen bereitet. Der Künstler als Verweigerungsphilosoph. So tritt er uns in Gestalt des Dolgensee gegenüber, dem Protagonisten in Gero Troikes kleinem Stationendrama, das jetzt im Deutschen Theater in der Regie des Autors uraufgeführt wurde.

Dolgensee hat den Koffer in der Hand und wird doch nie irgendwohin aufbrechen. Er sucht die Menschen und kann sie nicht aushalten. Er ist mit 70 noch in der Pubertät, probt Gefühle, anstatt welche zu haben und beschäftigt sich ausschließlich mit Dingen, „von denen er nichts versteht“. Dolgensee ist ein anstrengender Mensch: ein Getriebener ohne Orientierung, ein Grübler ohne wirkliches Problem. „Sie sind ein Künstler“, sagt das Mädchen Anna-Maria, dem er auf der Straße begegnet. Er rückt sich geschmeichelt den Hut zurecht und schweigt. Später erschießt er sie versuchsweise, doch sie enthebt ihn der Sorge, die Leiche von der Straße zu schaffen, indem sie wieder aufsteht und ihn heiratet. Hinter jedem Künstler steht eine Frau, die ihn dazu macht.

Gero Troike, von Haus aus Bühnenbildner, hat eine Szenenfolge verfaßt, die wirkt wie das dargestellte Leben seines Protagonisten: zufällig und bemüht, bedeutungsschwanger und doch ohne rechten Sinn. Da gibt es die Eltern des 70jährigen Dolgensee, die beim Puzzlespiel auf einen Besuch des Söhnchens warten; da gibt es eine Friedhofsszene, in der Dolgensee mithilft, ein Grab auszuheben – ein Arzt fällt hinein und stirbt; da steht Dolgensee schließlich vor Gericht und bricht gequält zusammen, weil er nicht die Wahrheit sagen kann, während Meereswellen an die Tür des Gerichtssaales klatschen.

Wiewohl Dolgensee im Titel „Ein Naturalist“ genannt wird, handelt es sich hier wohl eher um einen verspäteten Expressionisten, der auch sprachlich in seiner kruden Mystik und seinem hölzernen Pathos ein wenig an Georg Kaiser erinnert. Ist „Dolgensee“ eine Parodie auf eine Künstlerbiographie? Dann fehlt ihr der Witz. Ist es der ernstgemeinte Versuch, die Beziehungslosigkeit zwischen dem Individuum und seiner Umgebung zu thematisieren? Dann krankt das Drama an der Skizzenhaftigkeit seiner Figuren, an der Beliebigkeit ihrer Begegnungen. „Dolgensee“ ist nicht Fisch und nicht Fleisch, der Text verzichtet so konsequent auf eine sinnhafte Zuordnung, daß schon bald gar nichts mehr überrascht und die ZuschauerInnen das Ende der Vorstellung erst bemerken, als die Deckenbeleuchtung angeht.

Troike hat sich das Publikum mit auf die Bühne geholt. In intimem Kreis sitzt man um eine winzige Spielfläche, die gelegentlich vom Schnürboden herab mit einigen Versatzstücken räumlich spezifiziert wird (Bühne: Bettina Weller). Das Meerwasser, das in der Gerichtsszene bis in den Saal vordringt, ist als szenische Metapher von Anfang an enthalten: auf einer gefrorenen Pfütze eiern Dolgensee und Anna-Maria herum, als sie sich begegnen. „Unter uns ist Wasser“, sagt er, und in die aufgetaute Pfütze fällt sie, als sie scheinbar erschossen ist. Aber dicht unter der Wasseroberfläche sind die Bühnenbretter, das vergißt man keinen Moment.

Michael Schweighöfer ist Dolgensee: ein Wichtigtuer und Unglückswurm, dessen Einsamkeit mit verbalen Plattheiten erspielt werden muß. Schweighöfer ist nicht zu beneiden. Auch Petra Hartung als Anna-Maria wird von der Regie seltsam allein gelassen. Ihr wenigstens hätte Troike ein wirkliches Gefühl gestatten können, eine klitzekleine Leidenschaft für ihren Pseudokünstler Dolgensee, doch der Part der Gefährtin bleibt ebenso holzschnittartig und fern wie der des Künstlers selbst. Benjamin Kradolfer chargiert sich mühsam durch die Rolle des Vaters, und Franziska Hayner bringt momentweise eine nicht uninteressante Lüsternheit in die Figur der Mutter, die aber auch nicht weiter verfolgt wird.

Was immer in den Untiefen des „Dolgensee“-Textes doch noch versteckt sein mag, in der Regie des Autors ist es nicht zum Vorschein gekommen. Zaghaft und etwas verlegen applaudierten die hundert BeobachterInnen und entfernten sich dann eilig. Petra Kohse

Gero Troike :„Dolgensee“. Mit Michael Schweighöfer, Petra Hartung, Franziska Hayner, Benjamin Kradolfer, Horst Weinheimer, Erhard Marggraf, Ines Schweighöfer, Jürgen Huth, Hans Bergermann und Marius Fischer. Bühnenbild und Kostüme: Bettina Weller; Musik: Uwe Hilprecht

Nächste Vorstellungen: 29. April, 3. Mai