In der Lepra-Kolonie

■ Roland Joffés „Stadt der Freude“

Immer wieder entdecken wir, daß in der Welt gerechter Austausch herrscht. Und sieht es auch nicht so aus angesichts des Elends dieser Welt, dann konstruieren wir es uns: An etwas müssen diese Elenden reich sein, an dem wir arm sind. „Inmitten dieser Hölle habe ich mehr Heroismus, mehr Liebe, mehr Anteilnahme, mehr Freude und letzendlich mehr Glück gefunden als in unseren reichen Städten des Westens“, schrieb der französische Journalist Dominique Lapierre, nachdem er 1985 einen Bestseller über die indische Slum- Metropole Kalkutta auf den Markt geworfen hatte. Ein polnischer Priester geht nach Indien, um mit den Armen eines vorbildlichen Slums zu leben und dort wiederholt die begeisterten Textbausteine auszustoßen: „So viel Leben und Freude kann aus so viel Demütigung entstehen!“ Konsequent nur der Dank des Autors an die Computerfirma Apple im Nachwort. Konsequent auch, daß der britische Regisseur Roland Joffé diesen Stoff vom äußeren Leiden und inneren Siegen zur Grundlage seiner neuesten Reflexionen über den Kolonialismus macht, Titel: „Stadt der Freude“.

Denn Joffé ist einer, der glaubt, daß man sich Moral im Kinosessel fühlend erarbeitet. In „Killing Fields“ und „The Mission“ prangerte er in großen Bildern die zynische Geopolitik der Großmächte des 19. und 20. Jahrhunderts an, indem er gute Weiße an der Skrupellosigkeit ihrer Zeitgenossen scheitern ließ. Doch während sich „Killing Fields“ noch positiv vom Kriegsspielstil des amerikanischen Vietnam-Kinos abhob, war „The Mission“ schon dem Effekt erlegen: Hinter den heroischen Posen der Protagonisten und den 25 Millionen Dollar Kosten war von Kriegswirklichkeit, und sei es von historischer, nichts mehr zu erkennen.

Deswegen mußte für „Stadt der Freude“ der Priester gehen und der Heroismus zumindest zu Anfang dem Zynismus weichen. Statt des Priesters macht der Filme eine Nebengestalt des Lapierre-Buchs, den jungen amerikanischen Arzt Max (Patrick Swayze), zum Helden. Er kann zu Hause in Texas seinen inneren Ansprüchen nicht genügen, und als ein geliebtes Patientenkind unter seinem Messer stirbt, geht er nach Indien. Nachdem er seine Meditationsbücher weggeworfen hat, besäuft er sich mit einer Prostituierten und landet in der Slumklinik der engagierten Engländerin Joan. Als sie ihn wiederholt bittet, im diesem Slum namens „City of Joy“ (ein Eigenname; die deutsche Übersetzung des Verleihs ist natürlich Unsinn) zu arbeiten, lehnt er ab: „Vielleicht steckt es ja in Ihnen, eine Heilige zu sein, Schwester Joan, aber es ist einfach nicht mein Stil.“ Doch Gottes Wege sind gar wunderlich – der Paß wird geklaut, und Max ist gezwungen, in Kalkutta zu bleiben.

Joffé ist vor allem auch einer, der glaubt, daß die Erzählung persönlicher Schicksale gesellschaftliche Mißstände anklagen kann. Parallel zu der Entwicklung von Max erzählt er die Geschichte des Kleinbauern Hasari, der mit seiner Familie nach Kalkutta kommt, dort auch Arbeit als Rikschafahrer annimmt und Unterkunft in der „Stadt der Freude“ findet. Aufdringlich kontrastiert der Film die egozentrische Unzufriedenheit von Max mit dem Überlebenskampf des indischen Familienvaters, ein Muster des Hin- und Herspringens zwischen zwei Welten, das Joffé schon in „Killing Fields“ strapaziert hat. Ein Glücksfall für den Film ist der indische Schauspieler Om Puri, der diesen stereotypen Hindu-Sisyphus Hasari, der trotz aller Widrigkeiten das Lächeln nicht verliert, wie durch ein Wunder glaubwürdig zu spielen versteht. Zugunsten der pathetischen Anklage und einer verdaulichen Gesamthandlung allerdings verzichtet der Film auf viel von dem, was Lapierres Buch auf seinen besten, das heißt journalistischen Seiten erklärt. Er bestätigt den allgemeinen Eindruck, daß in der Dritten Welt etwas faul ist, ohne Einzelheiten zu nennen. Der von den Rikschafahrern initiierte Aufstand gegen die lokale Mafia hilft da auch nicht weiter. Man wünscht sich bei Filmen wie diesem eine Erklärung dafür, warum es Lepra-Kolonien mitten in einer Millionenstadt wie Kalkutta geben kann. Nur so verlören solche Filme das Ben-Hur-Flair.

Die Dreharbeiten in Kalkutta erforderten einen gewaltigen Aufwand, unter anderem den kompletten Nachbau der Stadt City of Joy in einem Betonbecken zur Monsunsimulation. Über ein halbes Jahr besetzte die Crew eine komplette Etage im teuersten Hotel der Stadt. An den Drehorten mitten in der Stadt wurden Restaurantzelte mit Buffets für die Crew aufgebaut, Polizei mußte die gaffenden Inder fernhalten. Die indischen Statisten bekamen eine Banane und ein Stück Brot in einer Plastiktüte zugereicht.

Am besten ist „Stadt der Freude“ an den wenigen Stellen, wo einem Indien nicht mit theologischen, sondern mit formalen Mitteln nähergebracht wird. Die Kamerafahrten von Peter Biziou im Autoverkehr Kalkuttas oder beim Rauswurf aus der ersten Bleibe, die Hasari bei einem Betrüger angemietet hat, sind lehrreicher und unterhaltsamer als die psychischen Abgründe von Max' Kindheit. Immerhin verzichtet Joffé auf eine Liebesgeschichte zwischen Max und der mütterlichen Joan. Auch das Happy-End bleibt einem bei dieser europäischen Großproduktion wegen des tödlich verletzten Hasari erspart. Erik Schadde

„Stadt der Freude“. Regie: Roland Joffé; Großbritannien/Frankreich 1992, 92 Min.