Der Traum vom Dorf in der Großstadt

Nach dem Urteil gegen die Hafenstraße sehen die BewohnerInnen keinen Grund zur Resignation Das Genossenschaftsmodell wird weiter geplant und vorangetrieben  ■ Aus Hamburg Sannah Koch

Keine deprimierten Gesichter, keine durchweinten Nächte – nach dem vernichtenden Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichtes (OLG), das den Weg zur Räumung der Hamburger Hafenstraße bereitet hat, ist für die Bewohner der Häuser keine Welt zusammengebrochen. Eher ist das Weltbild wieder bestätigt worden. Das OLG entschied am Dienstag, daß die Mieter der bunten Häuserblocks sich nicht auf den sozialen Kündigungschutz berufen können – die Chance, ihre Zukunft auf juristischer Ebene zu sichern, ist damit gleich Null.

Bewohnerin Rosemarie lächelt ein wenig spöttisch über die Frage nach der Stimmungslage: „Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Leute noch Hoffung in die deutschen Gerichte setzten.“ Viele von ihnen hätten sogar mit einer Art Erleichterung reagiert. „Die ganze Juristerei hat soviel Kraft gekostet, die wir hätten anders einsetzen können“, meint auch Moni. Aber ein bißchen Hoffnung saß wohl auch in den Nischen ihres Bewußtseins. „Ich war zuerst schon ziemlich geschockt“, räumt sie dann doch ein. Der Schrecken sei ihr jedoch durch die Gespräche mit den Wohngenossen schnell wieder genommen worden.

Das Miteinander in der Hafenstraße – da geht manchem Bewohner sogar das verpönte Wort „Heimat“ ganz leicht über die Lippen. „Es ist schwer zu beschreiben, was das Besondere unseres Zusammenlebens ausmacht.“ Moni und Rosemarie suchen nach Erklärungen. Das Gefühl der Geborgenheit, das Streiten und Versöhnen, das gemeinsame Leben und Arbeiten. Familienersatz, Sozialidyll? „Nein, sowas wie eine funktionierende Dorfgemeinschaft inmitten der Stadt“, meint Rosemarie. Ein Gemeinde von immerhin mehr als hundert Frauen, Männern, 20 Kindern und ungezähltem Kleinvieh. Wäre die Lage nicht so prekär, würde ihnen niemand diese öffentliche Nabelschau abverlangen. Doch das bundesweite Symbol für gelebten Widerstand braucht Unterstützer und Sympathisanten – jetzt wieder dringender denn je. Heute sind viele von ihnen bereit, über ihren Alltag zu sprechen – nicht mehr nur der monolithische, kämpfende Block sein, als der sie früher galten. „Vielleicht war das ein Fehler, daß wir das nicht schon früher getan haben“, meint Moni. Und was nun? „Wir suchen jetzt nach einer politischen Lösung für uns,“ sagt Anne – und korrigiert sich gleich: „Nein, nach einer menschlichen Lösung.“

Hamburgs Politiker, mit Ausnahme der Grünen, wünschen jedoch weder eine menschliche noch eine politische Lösung. Sie wollen „die rechtsstaatliche Beendigung des Projekts“ – und das dalli. So unisono vorgetragen in der Bürgerschaftsdebatte am Mittwoch abend. „Mit Bürgermeister Henning Voscherau und mir als SPD- Fraktionschef wird es von diesem Weg keine Abkehr geben“ – Günter Elste spielt mit den Muskeln. „Sozialschmonzetten“, so die gemeinsame Reaktion auf die Wortbeiträge der Grünen, wolle man über die Hafenstraße nicht mehr hören.

Doch davon wollen sich die Bewohner nicht frusten lassen. Immerhin gab es in der Parlamentsdebatte auch überraschende Zwischentöne. So bezeichnete der ehemalige Wirtschaftsenator und FDP-Abgeordnete Wilhelm Rahlfs die Hafenstraßen-Pläne für ein kommunales Bauprojekt als „schöne Utopie“. Utopien seien in dieser Stadt aber nicht realisierbar.

Obwohl sie es besser wissen müßten, wollen die Streiter vom Hafenrand diese Weissagung nicht hinnehmen. Sie stürzen sich weiter mit aller Kraft auf ihr Bauvorhaben. Den Traum von der Gemeinnützigen Genossenschaft, die in der Baulücke nebenan auf 2.000 Quadratmetern ein Stadtteilprojekt errichten soll, wollen sie auch nach den rüden Absagen aus dem Hamburger Senat nicht sausen lassen. Im Gegenteil – „wenn wir jetzt aufgeben, sind wir schon fast verloren.“ Die kommunale Stadtteilhalle, die Volxküche, die Kindertagesstätten und das öffentliche Bade- und Waschhaus, „das sind doch alles Sachen, die hier in St.Pauli gebraucht werden“. Aber für Anne und die anderen steht dabei vor allem die Frage nach der Mitsprache der Bürger in der Hamburger Stadtplanung im Mittelpunkt. „Die reden immer vom integrierten Leben und Arbeiten, aber wir machen es ihnen hier vor.“

Die Gründung ihrer Baugenossenschaft soll am Montag abend über die Bühne gehen. Alle interessierten Hamburger sind geladen, im Schmidt's Tivoli auf der Reeperbahn über das Vorhaben zu diskutieren und zu streiten. „Es gibt wahnsinnig viel Sympathie für unsere Pläne“, betont Anne. Aber allen ist auch bewußt, daß sie noch weit mehr Unterstützer aus der Bevölkerung brauchen, als sich im Moment öffentlich zu ihnen bekennen. Angesichts der anstehenden Arbeit liegt das OLG-Urteil dann doch schwer auf dem Magen. „Mein Gott, der helle Wahnsinn wäre es schon gewesen, wenn das Gericht zu unseren Gunsten entschieden hätte.“