Robinson und Caliban

Eine literarhistorische Exkursion  ■ Von Hans Christoph Buch

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Inselträume sind mythische Archetypen der Phantasie, in denen sich die Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter ebenso artikuliert wie der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies, ob der Held nun Odysseus heißt oder Robinson Crusoe, Gulliver oder Candide. Ein Klassiker des Inselromans ist Johann Gottfried Schnabel, dessen deutsche Robinsonade „Die Insel Felsenburg“ ebenso langweilig wie langlebig ist. Vor kurzem jährte sich das Geburtsdatum ihres Verfassers zum dreihundertsten Mal. Was keinem der Rezensenten auffiel, die aus diesem Anlaß auf Schnabel aufmerksam machten, ist die Tatsache, daß dessen „Insel Felsenburg“ soeben auf höchst originelle und unterhaltsame Weise fortgeschrieben worden ist – passenderweise im Insel Verlag. Erich Wolfgang Skwaras Roman „Tristan Island“ hat mit Schnabels bürgerlich-pietistischer Utopie mehr als nur den Schauplatz gemein: die im Südatlantik gelegene Insel Tristan da Cunha, die fast ebenso weit von Afrika und Südamerika wie von Napoleons Verbannungsort St.Helena entfernt ist. Schon im 18. Jahrhundert siedelten sich englische Schiffbrüchige auf der von portugiesischen Seefahrern entdeckten Insel an; das Schicksal ihrer von Fischfang und Schafzucht lebenden Nachkommen, inzwischen 325 an der Zahl, hat nach Johann G.Schnabel nun auch Erich W.Skwara zu einer Robinsonade inspiriert: „Die Radiostation von Edinburgh-by-the-Seven-Seas sendet täglich ein Funksignal nach Kapstadt an der Südspitze Afrikas zur Versicherung an die Welt, daß es Tristan Island und seine Bewohner noch gibt. Man fragt sich, was geschehen sollte, wenn dieses Zeichen einmal ausbleiben sollte. [...] Tristan Islands Verschwinden, sollte es einmal dazu kommen, würde nicht unbemerkt bleiben, selbst der Natur gelingen keine perfekten Verbrechen mehr. [...] Derlei Gedanken begleiten mich. Mein angelesenes Wissen über die entlegenste bewohnte Insel der Erde bekommt mir nicht gut. Wenn ich nur selber jeden Tag ein Zeichen an die Welt richten dürfte! Aber da ist kein Empfänger, den ich anpeilen kann, dem ich sagen möchte: Es gibt mich, es gibt mich wieder, ich habe endlich meinen Platz gefunden.“

Mit diesen Eingangssätzen ist das Programm des Romans umrissen, der nicht nur die Geschichte von Tristan Island nacherzählt, sondern zugleich ein ironisch gebrochenes Selbstportrait seines Verfassers enthält, dessen Melancholie er mit subtilem Witz unterläuft. Der Held, ein österreichischer Diplomat, trägt Züge des in Kalifornien als Literaturprofessor lebenden Autors; von der Terrasse eines italienischen Restaurants blickt er jeden Nachmittag aufs offene Meer hinaus und träumt sich vom Südpazifik hinüber in den Südatlantik, nach Tristan Island, in die berühmte Heimat, wo noch niemand war. Die von Schnabel einst breit ausgemalte gesellschaftliche Utopie hat sich ins Schneckenhaus des Subjekts zurückgezogen, um hier zu überwintern. Es ist eine private Utopie, deren Tristesse suggerierender Name an die Hauptfigur von Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“ erinnert, der Skwara schon mehrfach literarisch gehuldigt hat.

Obwohl die Handlung auf der Stelle tritt, ist der Roman an keiner Stelle repetitiv oder redundant – ganz im Gegenteil. Während er eine Expedition zum Abtransport seiner Insel aus dem Südatlantik vorbereitet (nach dem Motto: Wenn der Prophet nicht zum Berge kommt, kommt der Berg zum Propheten), blickt der Erzähler auf seine Laufbahn als Diplomat zurück, und die blutigen Konflikte der Außenwelt, die er so angestrengt aus dem Roman auszuschließen versucht, holen ihn auch hier ein: „Ich stand und stehe hingerissen vor einem Tod, der sich auf Verhandlungstische bettet, vor dem Blut der Schlachtfelder und dem Gestank der Leichen, die sich brav in dicke Aktenordner fügen, ich gehe in die Knie vor einem Untergang, der zum höflichen Wort neben Mineralwasserflaschen, Mikrophonen und Fahnen und Namensschildern wird. Wir Diplomaten reden nicht vom Mord, wir reden nicht vom Hunger, wir reden nicht einmal von unserer Lächerlichkeit. [...] Wir lassen uns selbstzufrieden in dunklen Anzügen zu gepflegten Banketten nieder. Zuweilen bedaure ich, daß ich aus der Karriere allzu früh verstoßen worden bin.“

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Eine andere Art von Inseltraum hat die 1917 in Kiew geborene, 1961 in New York verstorbene Avantgardefilmerin Maya Deren, eine Seelenverwandte der mexikanischen Malerin Frida Kahlo, dazu inspiriert, 1947 zum ersten Mal nach Haiti zu gehen, um die Riten des afro-amerikanischen Voodookults an der Quelle zu studieren. Etwa zur gleichen Zeit hatten die Schriftsteller André Breton und Alejo Carpentier, der Ethnologe Michel Leiris und der Essayist Edmund Wilson die karibische Insel besucht und hier den Surrealismus nicht als künstlerische Idee, sondern als gelebte Realität entdeckt – ein folgenreiches Mißverständnis, das bei der Geburt des real maravilloso, des magischen Realismus der lateinamerikanischen Literatur, Pate stand. „Was ist die Geschichte Lateinamerikas anderes als die Chronik einer wunderbaren Wirklichkeit?“ schrieb Alejo Carpentier im Prolog zu seiner auf Haiti spielenden Novelle „Ein Reich von dieser Welt“.

Von solch kühnen Schlußfolgerungen war Maya Deren weit entfernt. Obwohl sie sich mit Haut und Haaren dem Voodoo verschrieb und nach ihrer Initiation selbst als Priesterin des Kults agierte, hat sie dessen komplexe Riten exakt registriert und nüchtern protokolliert; mit unermüdlichem Fleiß zeichnete sie alles auf, was sie während ihrer wiederholten Aufenthalte in Haiti hörte und sah, einschließlich der Rhythmen und Melodien der zur Anrufung der Voodoogötter dienenden Tänze und Lieder. Maya Deren war mehr als nur eine Filmemacherin, die sich für Musik und Choreographie interessierte: Anstatt den Voodoo in ein logisches Bezugssystem zu zwängen oder ihn zur Projektion bzw. Kompensation unbewußter Wünsche und Ängste zu mißbrauchen, wie dies so viele Reisende vor und nach ihr getan haben, erweckte sie die haitianischen Götter literarisch zum Leben und nahm ihre getanzte und getrommelte Botschaft ernst. Was sie zu dieser nichthegemonialen Annährung an eine fremde Kultur befähigte, war der durch ihre Außenseiterposition geschärfte weibliche Blick, der sie die Wahlverwandtschaft des Künstlers mit den Kolonisierten entdecken ließ: „Auch uns Künstler stellt man am Montag als Touristenattraktion zur Schau, am Dienstag werden wir als Kulturschaffende gerühmt, am Mittwoch als unmoralisch und verderblich gebrandmarkt, am Donnerstag läßt man uns als Studienobjekte wieder auferstehen, am Freitag feiert man uns aufgrund irgendeiner unerklärlichen Modelaune, am Samstag vergißt man uns wieder, und am Sonntag werden wir erneut als malerische Objekte besichtigt. [...] Mein eigenes schweres Schicksal als ,Künstler-Eingeborene‘ einer Industriegesellschaft verhinderte es, daß ich den haitianischen Bauern gegenüber eine ebenso anmaßende Haltung einnehmen konnte.“

Auch wenn Maya Derens Buch als ethnologische Feldstudie heute in einigen Punkten überholt ist (insbesondere was die Ableitung bestimmter Voodooriten aus der indianischen Mythologie betrifft), bleibt der von Sabine Gebhardt sachkundig eingeleitete und übersetzte Text, erschienen im Wiener Promedia Verlag, nach wie vor lesenswert.

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Zu Beginn einer Voodoozeremonie zeichnet der Priester mit Maismehl einen magischen Kreis auf den Boden, Vévé genannt. Dasselbe tut der Oberpriester des

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deutschen Voodoo, Faust, als er in seiner Studierstube Mephisto beschwört. Sein Schöpfergott Goethe, der Faust zum Leben erweckte, indem er der Holzpuppe des Marionettentheaters poetischen Atem einhauchte, ließ seinen Helden auf der Suche nach der schönen Helena zu den Müttern hinabsteigen, ins Labyrinth der klassischen Mythologie. Der Berliner Germanist Michael von Engelhardt ist ihm auf diesem Weg gefolgt und, wie Tom Sawyer im gleichnamigen Roman, bei den Antipoden herausgekommen, in Argentinien, wo er heute Literatur lehrt. Sein im Verlag Stroemfeld/ Roter Stern erschienenes Buch „Der plutonische Faust“ hat mit den hier skizzierten Inselträumen viel zu tun, auch wenn es auf dem Festland spielt, genauer gesagt unter der Erde, in Plutos Reich, wo der teuflische Totengott unterirdische Metalle und vergrabene Schätze hütet. Der historische Faust war ein Zeitgenosse von Karl V., Pizarro und Cortez: Die spanischen Eroberer brachten das Gold der Inkas und Azteken nach Europa, mit dem der Kaiser seine Kriege, die Fugger ihre Geschäfte und der Papst den Bau des Petersdoms finanzierte – was wiederum Luther und die Reformation auf den Plan rief. Diesen Prozeß, der mit der Abholzung der Mittelmeerküsten zum Zweck des Schiffsbaus begann und mit der Zerstörung der tropischen Regenwälder endete, hat Michael von Engelhardt in seinem Buch nachskizziert und zugleich den gefährlichsten Stoff der Welt, das hochradioaktive Plutonium (Halbwertszeit 24.360 Jahre), auf seinen mythischen Ursprung zurückgeführt: „Das Betreten der phantastischen Bezirke der exotischen Landschaft ist nicht nur die Ausfahrt zu neuen Ufern, sondern korrespondiert mit dem beuteheischenden Abstieg in die Unterwelt. Die Konquistadoren und christlichen Missionare sehen sich im Herrschaftsbereich Satans. Die nackten Wilden, die sich selbst verzehrenden Kannibalen – eine der nachdrücklichsten Phantasien, die Vernichtung legitimiert– sind näher am Reich der Toten als an dem der zivilisiert Lebendigen – die Projektion grotesker Körper in die Körper dieser Wilden rückt sie in den Bereich der Dämonen und Teufel. [...] Am Ende der bürgerlichen Epoche wird mit der Atombombe (,Plutonium‘) die Möglichkeit der Weltvernichtung stehen. Der Mensch ist Gott geworden, was die Möglichkeit des Tötens anbelangt. Der ,faustische‘ Mensch als Sinnbild deutscher Ideologie hat mit Auschwitz Totenreich und Marterhölle in einem realisiert.“

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Bekanntlich hat Christopher Marlowe zweihundert Jahre vor Goethe den Faust-Stoff dramatisiert. Weniger bekannt ist, daß William Shakespeare hundert Jahre vor Daniel Defoe ein Robinson-Stück geschrieben hat, das sein dramatisches Schaffen beschließt und als sein literarisches Vermächtnis gelten kann: „Der Sturm“. Das Schicksal einer auf den Bermudas gestrandeten englischen Schiffsmannschaft war die historische Vorlage für den von Shakespeare frei behandelten Stoff. Prospero, der Held des Dramas, ist ein Seelenverwandter von Faust: ein italienischer Renaissancefürst, der über magische Kräfte verfügt und auf seiner einsamen Insel die tobenden Elemente beschwört, allen voran den Luftgeist Ariel. Die Rolle des Mephisto spielt Caliban, zugleich böser Dämon und dienstbarer Geist, dessen Name sich von den Ureinwohnern der Karibik herleitet, nach denen bis heute die Kannibalen benannt sind. Caliban, Prosperos Sklave und zugleich sein Gegenspieler, scheint einem Horrorgemälde von Hieronymus Bosch entsprungen zu sein: In den Augen der Europäer wirkt er so monströs, daß die Schiffbrüchigen ihn abwechselnd als rohen Erdenkloß und als Fisch verspotten. „Trinculo: Wäre ich jetzt in England und hätte diesen Fisch als Aushängeschild, so gäbe es keinen Sonntagsnarren, der mir nicht ein Silberstück zahlen würde. So würde ich durch dieses Monstrum zum gemachten Mann. [...] Nicht einen Heller geben sie einem lahmen Bettler als Almosen, bezahlen aber zehn, um einen toten Indianer zu sehen.“

Shakespeare ist, wie man sieht, von Rousseaus Verklärung der „edlen Wilden“ noch weit entfernt; aber hinter Calibans abstoßendem Äußeren verbirgt sich, ähnlich wie bei Robinsons Gefährten Freitag, ein empfindsames Herz. „Stephano und Trinculo sprechen eine barbarisch-schlichte Prosa, Caliban hingegen durchgängige Verse, die mit zum Schönsten und Poetischsten gehören, was Shakespeare geschrieben hat. Er allein ist es, dem die Insel sich musikalisch öffnet, der sie in Tönen und Melodien wahrninmt, die ihn weinen machen: ,The isle is full of noises.‘ [...] Wenn es richtig ist, daß die Stücke Shakespeares jeweils ihre leitmotivischen Sprachbilder haben und die des ,Sturm‘ vor allem aus der Beschwörung von Tönen bestehen – eine absolute Symphonie des Klanges –, dann gehört die Insel in der Tat niemand anderem als dem versklavten Caliban“, schreibt Ekkehard Krippendorff in seiner soeben bei Suhrkamp erschienenen großen Studie über Shakespeare, die dessen Dramen einer längst fälligen Neubewertung unterzieht. Nach dem bahnbrechenden Buch des Polen Jan Kott, der die politischen Intrigen bei Shakespeare als Vorwegnahme des totalitären Überwachungsstaats deutete, dient Shakespeare hier einem modernen Politikwissenschaftler als Kronzeuge für postmoderne Politikverdrossenheit. Wichtiger als das Resultat ist mir die Methode der Untersuchung, die ohne akademisches Imponiergehabe auskommt und auf philologische Haarspaltereien verzichtet. Was an Krippendorffs Monographie besticht, ist ihr Reichtum an historischen und aktuellen Bezügen, auch wenn mir die Inanspruchnahme Shakespeares für ökologischen Pazifismus und Feminismus manchmal zu weit hergeholt scheint. Das Buch überzeugt, ähnlich wie Michael von Engelhardts Faust-Studie, durch seine Interpretationskunst, die Lesbarkeit mit Gelehrsamkeit verbindet und, die Grenze zwischen Primär- und Sekundärliteratur überschreitend, spannender zu lesen ist als die künstlich hochgepuschten Bestseller der Saison.

Erich Wolfgang Skwara: „Tristan Island“. Roman. Insel Verlag, Frankfurt a.M. 1992, 199 S., 32 DM

Maya Deren: „Der Tanz des Himmels mit der Erde. Die Götter des haitianischen Vaudou“. Aus dem Amerikanischen übersetzt und eingeleitet von Sabine Gebhardt. Promedia Verlag, Wien 1992, 368 S., 48 DM

Michael von Engelhardt: „Der plutonische Faust. Eine motivgeschichtliche Studie zur Arbeit am Mythos in der Faust-Tradition“. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt a.M. 1992, 456 S., 48 DM

Ekkehard Krippendorff: „Politik in Shakespeares Dramen“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1992, 491 S., 64 DM