Ethnisch? Ökonomisch?

Hintergründe des moldawischen Bürgerkriegs  ■ Denis Deletant

Die von Nadeschda Bosatikowa auf diesen Seiten beschriebenen Ereignisse fanden im Sommer 1992 in der sogenannten Dnjestr- Republik statt, einer Abspaltung von der Republik Moldawien (oder Moldowa, wie sie zu Hause heißt). Zusammen mit der Dnjestr- Region hat Moldawien 4,3 Millionen Einwohner. Die größte ethnische Gruppe stellen die Moldawier (Rumänen) mit 2,8 Millionen (64 Prozent), ihnen folgen die Ukrainer mit 600.000 (14 Prozent) und die Russen mit 560.000 (13 Prozent).

Geographisch als Transdnjestrien bekannt, liegt die Dnjestr-Republik jenseits des Flusses Dnjestr; ihre Bevölkerung besteht aus 546.000 Einwohnern, von denen 40 Prozent Moldawier sind, 28 Prozent Ukrainer und 25 Prozent Russen. Ihre größte Stadt ist Tiraspol mit 200.000 Einwohnern, von denen 41 Prozent russischstämmig sind (einschließlich des Militärpersonals der 14. Division der Russischen Armee), 33 Prozent Ukrainern und 17 Prozent Moldawiern.

Befürworter eines separaten Staates jenseits des Flusses können auf eine historische Präzedenz von 1924 verweisen, als Transdnjestrien Teil der Moldawischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik war, die in diesem Jahr von Stalin geschaffen worden war. Von den Einwohnern der damaligen neuen Republik waren lediglich 32 Prozent Moldawier; die Mehrheit der Bevölkerung setzte sich aus 46 Prozent Ukrainern und 10 Prozent Russen zusammen. Die Moldawische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (mit Transdnjestrien) existierte innerhalb der Ukrainischen SSR bis 1940. Dann schlug Stalin sie den neu annektierten, früher zu Rumänien gehörigen bessarabischen Gebieten und verlieh diesem neuen Gebilde unter dem Namen Moldawische Sozialistische Sowjetrepublik den vollen Status einer Sowjetrepublik. (Meine Güte, dieser Artikel ist der reinste Fingerbrecher analog zum Zungenbrecher, stöhnt die Säzzerin). Im Verlauf der Nachkriegszeit wurde Transdnjestrien zu einer Bastion sowjetischer Herrschaft über die Gesamtrepublik, und Russen entwickelten sich zur dominanten Minderheit. Jenseits des Flusses erhielt man mehr Geld für industrielle Ansiedlung und schickte dafür viele führende Kräfte der Partei in die moldawische Hauptstadt. Aus der einheimischen moldawischen Bevölkerung selbst dagegen rekrutierte sich zwischen 1950 und 1975 die kleinste Parteimitgliedschaft einer sowjetischen „Nation“ im gesamten Sowjetreich überhaupt.

Katalysator für die Schaffung einer Rebellenrepublik Transdnjestrien war die Entscheidung des moldawischen Parlaments vom 5. Juni 1990, aus der „Moldawischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ die „Sozialistische Sowjetrepublik Moldawien“ zu machen und damit den in Rumänien gebräuchlichen Namen einzuführen. Diese Anerkennung einer nationalen Identität mit Rumänien und die Unabhängigkeitserklärung der Republik am 23. Juni 1990 nährte die Angst der russischen Bevölkerungsteile vor einer bevorstehenden Verschmelzung ihres Landes mit Rumänien. Die Deputierten von östlich des Dnjestr forderten daraufhin eine autonome Republik. Sie trafen am 2. September in Tiraspol zusammen und erklärten ihre Unabhängigkeit von Moldawien durch Ausrufung der Dnjestr-Republik (Transdnjestrische Moldawische Sozialistische Republik).

Die Separatistenregierung hat, trotz Zusicherungen, die Rechte der russischen und ukrainischen Minderheiten zu schützen (die Moldawier sind auch jenseits des Flusses in der Mehrheit), nichts unternommen, als die Einschüchterungsaktionen und Gewaltakte zwischen den Ethnien des Landes begannen. Mit dem Wegfall der moldawischen Hauptstadt Chisinau brach die zivile Ordnung sofort zusammen, und die Waffen regierten. Hinter diesen Waffen standen vor allem Igor Smirnow, der selbsternannte Präsident der Rebellenrepublik, und die 14. Division der russischen Armee, die in Tiraspol stationiert ist.

Der Konflikt in der Dnjestr-Region ist weniger ein ethnischer, wie er in der westlichen und russischen Presse meist dargestellt wird; er ist ein Kampf um die politische Macht und um ökonomische Positionen verschiedener Gruppen, besonders der russischen Minderheit, die ihre dominante Position erhalten wissen will. Diese Schlacht wird stellvertretend für Moskau geschlagen und zusätzlich verkompliziert durch die Zersplitterung der politischen und militärischen Kräfte in der russischen Hauptstadt, durch die Ambitionen verschiedener lokaler Militärkommandanten, ihre eigenen Interessen durchzusetzen, sowie durch die Massen billiger und leicht zugänglicher Waffen, deren Ankauf und Gebrauch durch keine Institution mehr kontrolliert wird.

Am 23. August 1991, nach Zusammenbruch des Putsches gegen Gorbatschow in Moskau, erklärte das moldawische Parlament die Kommunistische Partei für illegal und beschloß, Igor Smirnows Aktivitäten, der sich mit den Putschisten solidarisiert hatte, durch einen Untersuchungsausschuß klären zu lassen. Gleichzeitig erklärte Moldawien seine Unabhängigkeit von der UdSSR und forderte Verhandlungen um den Rückzug der Truppen der 14. Division.

Durch ihren gemeinsamen Widerstand gegen diese Politik der moldawischen Regierung gerieten der Kommunist Smirnow und die Kommandanten der 14. Division in eine enge Koalition miteinander. Seit Herbst 1991 hat die Armee diverse separatistische Milizen und „Wächter“, die die moldawische Polizei von transdnjestrischem Gebiet vertreiben sollen, mit Waffen versorgt. Zusammenstöße zwischen „Wächtern“ und moldawischen Sicherheitskräften führten am 19. Juni 1992 zu einem heftigen Luftangriff auf Bendery durch Einheiten der 14. Armeedivision, bei dem Hunderte getötet wurden. Bendery liegt außerhalb der Rebellenrepublik und wurde am 18. Juni von separatistischen Einheiten angegriffen; gegen sie wurden moldawische Sondereinheiten eingesetzt, was am nächsten Tag zur Intervention der Armee führte.

Der moldawische Präsident Snegur erkannte die Gefahren einer Eskalation und bat im Juni noch die UN und CSCE um Friedenstruppen. Beide zögerten jedoch, und unter Druck des russischen Vizepräsidenten Ruzkoi und des Kommandanten der 14. Armeedivision, General Alexander Lebed, unterzeichnete Snegur am 21. Juli 1992 eine Vereinbarung mit Präsident Jelzin, wonach die separatistischen Einheiten und die 14. Armeedivision sich durch eine gemeinsame Führung selbst zu disziplinieren haben. Die neue Streitmacht, die aus 3.800 Russen, 1.200 Dnjestr-„Wächtern“ und 1.200 Moldawiern besteht, wurde sofort aktiviert und hat das Ausmaß des Konflikts sofort drastisch reduzieren können – wenn auch Gewalthandlungen in der Dnjestr-Region immer wieder vorkommen.

Indem sie die 14. Division als „lokale“ Streitmacht definiert und sie mit einer defensiven Rolle für die Dnjestr-Republik betraut haben, haben die Militärkommandanten den russischen Vizepräsidenten Rutskoi und viele andere prominente Ultranationalisten in Moskau unterstützt. Deren Ziel ist offenbar, den Verbleib einer Armee in Tiraspol zu rechtfertigen, die als Druck auf Moldawien und zur Bekräftigung strategischer Interessen Rußlands auf dem Balkan und im Schwarzmeergebiet benutzt werden kann. Der Preis für Moldawiens Unabhängigkeit und seine Union mit Rumänien ist jedenfalls der Verlust der Dnjestr- Region.

Denis Deletant unterrichtet an der „School of Slavonic and East European Studies“

in London.