Ein Formakt für Eritreas Freiheit

Dreißig Jahre lang hatte in Eritrea der blutigste und längste Krieg Afrikas getobt. Eine Million Menschen starben in der 1961 von Äthiopien annektierten Region am Roten Meer. Nun regiert die einstige Guerilla das Land, und die Eritreer stimmen an diesem Wochenende über die förmliche Unabhängigkeit ab. Viele Äthiopier sind darüber aber gar nicht glücklich.

Zu Tausenden hatten am Vorabend des Referendums für die Unabhängigkeit Eritreas bis spät in die Nacht hinein auf der Hauptstraße der Hauptstadt Asmara junge Männer getanzt, angefeuert von den Umstehenden. Am nächsten Morgen war die Euphorie nüchterner Sachlichkeit gewichen: Lange Schlangen bildeten sich vor den Wahllokalen, stundenlang wartete die Bevölkerung darauf, die Stimmzettel in die Urnen werfen zu können – einen roten gegen, einen blauen für die staatliche Unabhängigkeit.

„Meine Frau und ich leben seit 17 Jahren in Saudi-Arabien“, erzählt ein Techniker in einer der Warteschlangen. „Aber dort packe ich jetzt zusammen. In spätestens sechs Monaten will ich wieder hier leben, obwohl ich von meinen alten Freunden und Verwandten höchstens 20 Prozent gefunden habe.“ Eine Ingenieurin aus den USA möchte deswegen möglichst bald wieder dorthin zurückkehren: „Ich verabscheue Eritrea, ich finde es rückständig.“ Trotzdem will sie für die Unabhängigkeit stimmen: „Wenn ich die Leute hier nicht mag, muß ich ihnen ja deshalb nicht die politischen Rechte absprechen.“

Wie tief die Wunden sind, die drei Jahrzehnte Bürgerkrieg der Gesellschaft geschlagen haben und die viele Männer und Frauen in die Emigration zwangen, zeigt sich schon daran, daß sich etwa 300.000 Eritreer im Ausland für die Stimmabgabe haben registrieren lassen – im Lande selbst sind es rund 860.000, nur knapp dreimal so viele. „Keine einzige Beschwerde eines einzelnen oder einer Gruppe“ sei im Zuge der Vorbereitungen zu dem Referendum an die UN-Beobachter gerichtet worden, erklärt Dr. Nguyen Huu Dong von den Vereinten Nationen, deren 120 Beobachter gemeinsam mit etwa 200 weiteren internationalen Entsandten den Verlauf der Volksabstimmung überwachen sollen. „Wer jetzt behauptet, er habe keine Kampagne gegen die Unabhängigkeit führen dürfen, der hat sich nicht an uns gewandt.“

Internationales Lob wird es für die Übergangsregierung der „Eritreischen Volksbefreiungsfront“ (EPLF), die seit ihrem militärischen Sieg vor knapp zwei Jahren amtiert, in reichem Maße geben. Generalsekretär Iseyas Afeworki will erkennbar auch künftig in den Beziehungen zum Ausland eine pragmatische Linie beibehalten: Beziehungen zu Israel oder Südafrika seien durchaus erwünscht, erklärte er gestern auf einer Pressekonferenz.

Besonders eng sollen sich künftig vor allem die Beziehungen zu Äthiopien entwickeln: Für eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik, für Zusammenarbeit in den Bereichen Handel, Telekommunikation, Energiegewinnung und Landwirtschaft sprach sich Afeworki aus, und gefragt, worin sich diese Linie von einer Konföderation mit Äthiopien unterscheide, erwiderte der EPLF- Generalsekretär gestern lächelnd: „Solches schließe ich für die Zukunft gar nicht aus.“

Für die Zeit nach der Unabhängigkeit hatte die EPLF bisher stets Demokratie und Mehrparteiensystem versprochen. Der EPLF-Generalsekretär behauptet, daran auch weiter festhalten zu wollen – „wir würden es gerne in ein oder zwei Jahren erreichen“ –, aber ob das realistisch sei, müsse abgewartet werden. Und dann erläutert er, warum es aus seiner Sicht wohl kaum realistisch sein dürfte: Parteien müßten „reifen“. „Wir konzentrieren uns im Augenblick nicht auf Parteien, sondern auf den Aufbau demokratischer Institutionen.“ Nach der Unabhängigkeit würde eine Kommission mit dem Entwurf einer Verfassung beauftragt werden. Wer die Mitglieder dieser Kommission ernennt? „Die Regierung.“

„102 Prozent würde die Stimmung widerspiegeln“

Die große Feier ist für den 24. Mai geplant: An diesem Tag soll Eritrea offiziell zum unabhängigen Staat erklärt werden. Denn am Ausgang des Referendums zweifelt niemand: „102 Prozent Zustimmung wären peinlich“, spöttelt ein Mitarbeiter der eritreischen Vertretung in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba, „aber dieses Ergebnis würde die Stimmung eigentlich am besten widerspiegeln.“

Fast 30 Jahre lang hatte die EPLF für die Unabhängigkeit gekämpft. Im November 1962 hatte Äthiopiens Kaiser Haile Selassie die Region annektiert und völkerrechtswidrig zu einer Provinz seines Landes erklärt. In ihrem Kampf gegen die riesige Übermacht der äthiopischen Armee – der damals größten Streitmacht Afrikas – stand die EPLF danach fast völlig alleine. Nach dem Sturz des äthiopischen Militärregimes von Mengistu Haile Mariam und der unblutigen Machtübernahme der EPLF in Asmara im Mai 1991 gab es niemanden, der die moralische Autorität gehabt hätte, sich der Forderung nach einer Volksabstimmung unter UNO-Aufsicht zu widersetzen.

Der neue äthiopische Präsident Meles Zenawi hatte ohnehin gleich nach seinem Amtsantritt versprochen, den Ausgang einer Volksabstimmung in Eritrea zu respektieren. Das droht jetzt in Äthiopien zu einer schweren innenpolitischen Bürde zu werden: „Was ist das für eine Regierung, die ihr eigenes Land weggibt?“ ist eine Frage, die in diesen Tagen in Addis Abeba immer wieder voller Empörung gestellt wird. Die Mehrheit der Bevölkerung in Äthiopiens Hauptstadt sind Amharen, seit Ende des letzten Jahrhunderts die Elite des Landes – die in Äthiopien regierende EPRDF hat ihre Wurzeln in der weit entfernten nördlichen Provinz Tigray. Fast zwei Jahre nach dem Machtwechsel sitzen an vielen Schreibtischen noch immer dieselben Beamten wie früher – und nicht wenige sabotieren die Politik der Regierung ebenso unauffällig wie erfolgreich.

Das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist mittlerweile stark eingeschränkt – wenn nicht sogar gänzlich bedroht. „Es ist immer noch weit besser als zu Mengistus Zeiten“, meint der Schauspieler Karlheinz Böhm, dessen von ihm gegründete Organisation „Menschen für Menschen“ große Landwirtschaftsprojekte in verschiedenen Teilen Äthiopiens unterhält. „Aber immer mehr Intellektuelle haben inzwischen wieder Angst, sich offen zu äußern.“ Auf die Eritreer in Äthiopien, die eine bedeutsame Rolle im Handel spielen, ist das Land wirtschaftlich angewiesen: „Aber es hat einen unglaublichen Haß hier erzeugt, daß Meles Zenawi erklärt hat, alle Eritreer dürften hierbleiben, nachdem in Eritrea die Äthiopier rausgeworfen worden sind.“

Etwa 40.000 Eritreer haben sich in Addis Abeba für das Referendum registrieren lassen. Die eritreische Vertretung hat die Regierung um Polizeischutz gebeten; auf dem Universitätsgelände der äthiopischen Hauptstadt haben sich in den letzten Tagen mehrmals protestierende Studenten versammelt. Bettina Gaus, Asmara