Fernsehen: Total normal

■ Die Zeiten der "Experimente in Form und Inhalt" sind bei Channel 4 vorbei

London (taz) – Im Oktober 1991 lief im unabhängigen britischen Fernsehen Channel 4 der Dokumentarfilm „The Committee“. Darin behauptete ein anonymer Zeuge, daß er Mitglied einer Todesschwadron gewesen sei, die Mordanschläge auf Katholiken in Nordirland verübt habe. Die Gruppe habe aus britischen Offizieren, nordirischen Polizisten und protestantischen Geschäftsleuten bestanden. Der Film schlug hohe Wellen: Ein TV-Journalist wurde angeklagt, weil er die Identität des Zeugen nicht preisgeben wollte. Channel 4 beschwerte sich im Gegenzug, daß Anti-Terrorismus- Gesetze plötzlich auf Fernsehanstalten angewendet werden würden.

Vor fünf Wochen setzte Channel 4 freiwillig den Spielfilm „Hidden Agenda“ ab. In dem Film mit Dokumentarcharakter geht es ebenfalls um Großbritanniens schmutzigen Krieg in Nordirland. Die Programmdirektion gab bekannt, die Ausstrahlung des Films so kurz nach dem IRA-Bombenanschlag im nordenglischen Warrington, bei dem zwei Kinder ums Leben kamen, wäre „unpassend“ gewesen.

Regisseur Ken Loach war anderer Meinung: Der Zeitpunkt für die Ausstrahlung seines Films wäre ideal gewesen, um einen Anstoß zur Diskussion der politischen Verhältnisse zu geben, die zur Tragödie von Warrington geführt haben. Die selbstauferlegte Zensur erwecke den falschen Eindruck, „Hidden Agenda“ sei ein Pro- IRA-Film, sagte Loach.

Die beiden Ereignisse, die nur anderthalb Jahre auseinanderliegen, sind symptomatisch für die Entwicklung von Channel 4. Der Sender war 1982 mit dem Anspruch angetreten, ein „innovatives und besonderes Programm“ zu machen. So lautete auch der Auftrag bei der Lizenzvergabe: „Das Programm muß einen angemessenen Anteil von Themen und Interessengebieten enthalten, die normalerweise nicht vom dritten Programm ITV abgedeckt werden.“ Darüber hinaus ermutigte der Lizenzvertrag ausdrücklich zu „Experimenten in Form und Inhalt“.

Zehn Jahre später ist davon nichts mehr übrig. Grund dafür sind die Werbeeinnahmen. Bis Ende 1992 hat Channel 4 nämlich die gesamte Werbezeit an Independent Television (ITV) abgetreten und dafür eine Pauschale kassiert. Diese Nabelschnur ist seit dem 1.Januar 1993 zerschnitten, Channel 4 muß die Werbezeiten nun selbst vermarkten. Seitdem schielen die Verantwortlichen auf die Einschaltquoten, riskante und innovative Produktionen haben keinen Platz. Die anspruchsvollen Wirtschaftsnachrichten, die täglich ausgestrahlt wurden, sind bereits verschwunden. Und die Nachrichtensendungen unterscheiden sich nur noch in der Länge, jedoch nicht mehr in der Qualität von den Sendungen anderer Anstalten. Besonders enttäuschend ist die Tatsache, daß politische Magazine, die „die Ideologie von der Neutralität der Nachrichten“ in Frage stellen sollten, inzwischen auch eingemottet worden sind.

Die Konkurrenz von ITV wirft Channel 4 vor, den besonderen Programmauftrag verraten zu haben und mit Hilfe billiger US-Importe die Zuschauerzahlen in die Höhe zu treiben. Der schottische ITV-Sender „Scottish Television“ analysierte das Programm von Channel 4 in der ersten Februarwoche. Demnach strahlte der Sender 41 Prozent importierte Produktionen aus – im Gegensatz von nur 22 Prozent bei ITV. Wiederholungen machen bei Channel 4 im Durchschnitt 28 Prozent des Programms aus, bei ITV sind es nur vier Prozent. Statt sich um Minderheiten zu kümmern, zeige Channel 4 Publikumsrenner wie „Golden Girls“ und „Das kleine Haus in der Prärie“, so Gus Mac Donald von Scottish Television. Seit Mitte Februar läuft auf Channel 4 zum Ärger der ITV-Bosse außerdem „The Best of Benny Hill“, eine völlig alberne, aber aus unerfindlichen Gründen überaus beliebte Kalauerserie. ITV hat jetzt ein Gespräch mit dem Direktor von Channel 4, Michael Grade, über die veränderte Programmpolitik gefordert.

Diese Politik hat allerdings den von Grade angepeilten Erfolg: Lagen die Einschaltquoten nach ersten Anlaufschwierigkeiten relativ konstant bei zehn Prozent, sind sie seit 1. Januar auf elf bis zwölf Prozent gestiegen. Das Nachsehen hat die britische Filmindustrie. Da es in Großbritannien keine wirksame staatliche Filmförderung gibt und die US-Unternehmen seit Mitte der achtziger Jahre aufgrund des Dollar-Sturzes kaum noch in Großbritannien produzieren, sind die britischen Regisseure stark auf das Fernsehen als Partner angewiesen.

Eine bedeutende Rolle spielte dabei Channel 4, das eben auch künstlerische Filme finanzierte, denen kein Massenpublikum garantiert war. Diese Zeiten sind vorbei. Statt dessen zeigt der Sender nun Mainstream-Filme wie „Der Abgrund“, denen mindestens sieben Millionen ZuschauerInnen sicher sind. Ralf Sotscheck