Los Angeles, ein Jahr danach

Wie die Bewohner in South Central mit viel Privatinitiative und ein bißchen Black Power versuchen, ihren Stadtteil wiederaufzubauen  ■ Aus Los Angeles Andrea Böhm

Einen Wiedergeborenen stellt man sich wohl anders vor. Nicht mit Tätowierungen auf dem Gesicht und Armen, die auf ausgiebiges Krafttraining schließen lassen. Auch nicht mit fast kahl rasiertem Schädel und einer Baseballmütze, auf der steht: „South Central – Proud Of It“. Aber Ray Ray glaubt an Reinkarnationen – auf seine Weise. „Das ist mein neues Leben“, wiederholt er immer wieder, und sein ausgestreckter Arm schwenkt einmal durch das Ladeninnere: Von den Schuhregalen über die vollelektronische Kasse zum lebensgroßen Poster des Rap- Stars Ice-Cube; von den Trainingsanzügen über MalcolmX-T-Shirts bis zur Videobildschirm, auf dem gerade Basketballstar Charles Barkley in Zeitlupe dem Korb entgegenfliegt. Ray Ray, Ex-Gangmitglied aus Jordan Downs, einer Sozialbausiedlung im Stadtteil Watts von Los Angeles, das auf dem inoffiziellen Stadtplan zum Territorium der „Grapestreet- Crips“ gehört, ist unter die Unternehmer gegangen. Zusammen mit seinem Freund High-T hat er vor drei Monaten ein Sportwarengeschäft mit dem Namen „Playground“ eröffnet. Ungewöhnlich ist nicht nur der Karrieresprung der beiden, sondern auch die Geschäftsadresse: Florence Avenue zwischen der fünften und sechsten Avenue in South Central Los Angeles – erfahrungsgemäß keine Gegend, die Investoren und Einzelhändler anzieht.

Von Ray Rays altem Leben ist unter anderem eine Träne übriggeblieben. Der kleine grüne Tropfen, eintätowiert unter dem linken Auge, gilt als Zeichen der Trauer und des Andenkens an jene Freunde, die entweder von der Polizei oder von rivalisierenden Gangs erschossen worden sind. Auf Anhieb fallen Ray Ray fünfzehn Namen ein. Nicht mitgezählt sind die Opfer, die auf das Konto seiner „Grapestreet Crips“ gehen. Fragt man ihn heute, ob er je einen Menschen getötet hat, zuckt er mit den Achseln.

In seinem Sportladen wandern bescheidenere Summen durch die Kasse, doch sie sind groß genug, um die beiden Inhaber und sechs Angestellte zu ernähren. Verkauft wird, was zur Zeit hip ist, Konsumgüter, die sich Ray Ray und High-T in früheren Tagen „einfach genommen“ hätten. Heute hängt über ihrer Ladentheke ein Schild mit der Aufschrift: „Wer klaut, wird mit der ganzen Härte des Gesetzes verfolgt“.

Das alles klingt nach dem Bilderbuch eines Bewährungshelfers, doch in Wahrheit sind die Gründe für den Ausstieg ebenso banal wie typisch: „Irgendwann wird man älter, kriegt Kinder, und das Leben mit der Gang wird einfach zu anstrengend.“ Ray Ray ist 25 und inzwischen fünffacher Vater. Irgendwann – und das spricht er selbst nicht aus – wird auch die eigene Angst zu groß.

Nun symbolisieren der „Playground“ und seine beiden Besitzer mehr als die erfolgreiche Umwandlung zweier Gangmitglieder in legale Einzelhändler. Zum einen gehört zum Laden ein Basketballplatz, der täglich dreißig bis fünfzig Kindern als relativ sicherer Spielplatz dient. Spielplätze bereitzustellen ist eigentlich Aufgabe der Stadt, doch die ist zur Zeit aus Geldmangel gezwungen, eine Freizeiteinrichtung nach der anderen zu schließen. Zum anderen, sagt Ray Ray, „gehört der Laden Schwarzen, er wurde mit Krediten von Schwarzen finanziert, und hier arbeiten auch nur Schwarze“.

Diese Kombination aus Marktwirtschaft und „Black Power“ ist eine Reaktion auf die Revolte, die Plünderungen und Zerstörungen, die vor allem South Central Los Angeles genau vor einem Jahr erschütterten. Die Wut, die damals losbrach, richtete sich nicht nur gegen ein offensichtlich rassistisches Urteil, in dem vier weiße Polizisten im ersten Rodney-King-Prozeß freigesprochen wurden. Sie richtete sich auch in einem Akt der Selbstzerstörung gegen die ökonomische Machtlosigkeit in den eigenen Vierteln – und ganz gezielt gegen koreanische Geschäftsbesitzer, in den Augen vieler Schwarzer in South Central Sinnbild einer neuen Einwandererschicht, die sich in den Ghettos die ersten Dollars für den sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg verdienen. „Jeder Dollar, der hier eingenommen und ausgegeben wird“, sagt Ray Ray, „bleibt auch in der schwarzen Community.“ Das zumindest habe der Aufruhr und der darauf folgende Schock bewirkt: „Unsere Leute hat er wachgerüttelt.“

Von einer Aufbruchstimmung in South Central zu sprechen wäre maßlos übertrieben. Am besten beschreibt wohl jene Straßenecke den gegenwärtigen Zustand, an der vor einem Jahr die ersten Geschäfte und Tankstellen in Flammen aufgingen: die Kreuzung Normandie- und Florence Avenue, nur wenige Blocks von Ray Rays „Playground“ entfernt. Die verkohlten Ruinen sind inzwischen zwar abgetragen, doch die Grundstücke liegen weiterhin brach, was sich aus der Vogelperspektive ausnimmt wie eine Serie von Zahnlücken. Die Gelände sind umzäunt, die Zäune mit Schildern behängt: „Erledige alle Klempnerarbeiten“ – oder: „Auto- und TV-Reparaturen zu Billigstpreisen“ – oder einfach: „Suche Arbeit. Mache alles.“.

Rund 15.000 Jobs sind durch die Zerstörungen und Plünderungen verlorengegangen in einer Stadt, in der es aufgrund der Rezession in den letzten drei Jahren bereits hunderttausend Arbeitsplätze weniger gibt. Etwa fünftausend Geschäfte sind in Brand gesteckt, geplündert oder beschädigt worden, darunter zweitausend in koreanischem Besitz – die meisten in South Central und dem angrenzenden Koreatown. Die meisten Besitzer oder Pächter waren entweder gar nicht oder unzureichend versichert, haben von staatlichen Stellen zu wenig oder zu langsam Überbrückungsgelder erhalten und verdingen sich jetzt oft als Aushilfen in anderen Familienbetrieben.

Diesem Prozeß der ökonomischen Verwüstung stemmen sich Bürgergruppen und vor allem Kirchengemeinden in South Central mit einer Mischung aus Hemdsärmeligkeit und Mut der Verzweiflung entgegen: Die „First African Methodist Episcopal Church“ (AME), mittlerweile ein Art inoffizielles Rathaus in der Stadt, hat unter dem Titel „L.A. Renaissance“ ein Ausbildungs- und Kreditprogramm geschaffen, um Arbeitslose in South Central zu Kleinunternehmern auszubilden. Zehn Wochen dauert der Crashkurs, an dessen Ende die Absolventen einen Startkredit erhalten, um ihren Imbißstand, ihre Videothek oder ihre Kleingarage zu eröffnen.

Meist sind es Menschen, die im Jargon der Banken als economically not viable, als „wirtschaftlich nicht lebensfähig“, gelten. Das Geld für die Kirchenkredite stammt, wie fast alle Finanzmittel, die in den letzten zwölf Monaten zum Wiederaufbau in die Stadt geflossen sind, aus der Spende eines Privatkonzerns: Die Disneyland- Corporation hat eine Million Dollar gegeben. Wer Erfolg hat und expandieren will, kann sich in der zweiten Stufe an ein Joint-venture wenden, das noch vor einem Jahr unmöglich schien: die einzige Bank in afroamerikanischem Besitz und ein koreanischen Geldinstitut haben sich zusammengeschlossen. Daß manche wie Ray Ray und High-T in den afroamerikanischen Vierteln eher eine Strategie der ökonomischen Segregation predigen, schließt keinewegs aus, daß vor allem im Bereich der Kirchen, aber auch wirtschaftlicher Interessengruppen über ethnische Grenzen hinweg agiert wird – und zwar sehr viel häufiger als vor dem Gewaltausbruch vom 29. April 1992. Es möge paradox klingen, sagt Reverend Leonard Jackson von der AME-Kirche, „aber die Stadt ist definitiv enger zusammengewachsen“.

Grund dafür ist nicht nur der Schock über die Ausschreitungen, sondern auch das Versagen staatlicher Organe beim Wiederaufbau, das Privatorganisationen und Kirchen mehr Aktionsraum läßt, als ihnen lieb ist. Bislang bleibt es also bei pragmatischen Einzelaktionen von Kirchen- und Bürgergruppen und Privatunternehmen. Mal spendet Disneyland eine Million, mal garantiert McDonald's Sommerjobs für Jugendliche, mal bietet ein Eiscremeproduzent an, eine Niederlassung in South Central aufzubauen. In diesem Fall brachte es die Stadtverwaltung noch nicht einmal fertig, ein Grundstück zu finden. Auch wenn in den USA staatlichen Organen weit mehr Mißtrauen und weniger Erwartungen entgegengebracht werden als in Europa, „für irgend etwas sind Politiker schließlich gewählt worden“, sagt Maxine Waters, demokratische Kongreßabgeordnete aus South Central. „Also kann man solche Aufgaben nicht einfach in die Hände von Privatleuten legen, und sich dann verabschieden.“

Zumal die 54jährige ehemalige Lehrerin keinen Hehl daraus macht, daß sie Personen wie den ehemaligen Olympiamanager und Chef der Privatinitiative „Rebuild L.A.“, Peter Ueberroth, für denkbar unqualifiziert hält – ein weißer Millionär und Republikaner, der noch nie mit den Problemen schwarzer Jugendlicher im Ghetto konfrontiert gewesen ist. „Was kann der schon darüber wissen, wie man Arbeitslosen ohne Schulerfahrung, aber mit jeder Menge Straßenerfahrung einen Job vermittelt.“ Statt 14- bis 19jährige mit Sommerjobs in Imbißketten zu versorgen, müsse man sich vor allem um die 17- bis 30jährigen kümmern und ihnen erst einmal die grundlegendsten Überlebenstechniken beibringen – angefangen von der Drogenberatung über die Funktionsweise der Sozialversicherung bis zum Bezahlen der Strafzettel und dem Umstand, daß man Konflikte am Arbeitsplatz nicht dadurch löst, daß man nicht mehr hingeht. „Wenn wir die Probleme dieser Zielgruppe nicht in den Griff kriegen, dann wird es in den Großstädten in diesem Land nie mehr Ruhe geben.“

Mangels Alternative auf regionaler und lokaler Ebene richten sich diese Forderungen mit einem gehörigen Erwartungsdruck an einen Mann: Bill Clinton. Ob in Maxine Waters Büro oder Leonard Jacksons Kirche – gespannt verfolgt man, ob der neue Präsident sein Versprechen als Heiler dieser Gesellschaft halten kann. Viel Zeit hat Clinton nicht, um diesem Vertrauensvorschuß gerecht zu werden. Schon im Sommer steht der nächste Strafprozeß in Los Angeles an – dieses Mal gegen drei Schwarze, die während der riots einem weißen LKW-Fahrer fast den Schädel zertrümmerten. Auch diese Tat ist, wie die Prügelorgie der vier weißen Polizisten gegen Rodney King, auf Video aufgenommen worden. Allein der Umstand, daß die Schwarzen wegen Mordversuchs, die Weißen aber nur wegen Körperverletzung angeklagt wurden, ist in den Augen vieler Schwarzer in South Central zusätzlicher Beweis für eine Binsenweisheit: Das Justizsystem ist vom Rassismus nicht zu kurieren.

Doch für Ray Ray hat sich die Situation maßgeblich entschärft. „Sie haben im King-Prozeß zwei Bullen schuldig gesprochen. Jetzt dürfen sie auch zwei von den homeboys verurteilen.“ So einfach ist Gerechtigkeit, wenn es keine gibt.