Eisenacher Kultourismus — Das Reality-Theater Von Michaela Schießl

Sie wollen Urlaub machen, das Hirn auslüften und einfach dümmlich nichts tun? Dann meiden Sie bloß die Perle Thüringens. Denn wer Eisenach besucht, mutiert augenblicklich zum Kultourist: Das Nationaldenkmal Wartburg wacht über der Stadt, die Georgenkirche erzählt von der Bachschen Orgeldynastie, weiter hinten war Martin Luther zugange, bevor er sich in die Wartburg verzog zum Bibelübersetzen. Später versammelten sich dort Burschenschaftler, um einen Staat zu fordern, Sänger trafen sich zum Wettstreit, und August Bebel rief seine Arbeiter zwecks Parteigründung zusammen. Eisenach, kurz, ist Geschichte, Geschichte ist Kultur, und Kultur ist das, womit Thüringens Boomtown Touristen locken will. Eine Ambition, so recht nach dem Geschmack des dortigen Landestheaters. Unter dem ungewöhnlichen Motto „Wir machen Theater“ startet Intendant Jürgen Fabricius ein wahres Feuerwerk kultureller Bühnenhighlights. Jüngster Anschlag: Carlo Goldonis Komödie „Der Diener zweier Herren“. Da muß man hin, findet der umtriebige Kultourist sofort, und wird nicht einmal stutzig, als es zur Premiere noch Karten an der Abendkasse gibt. Bestenfalls halbvoll war das Haus, als der Vorhang aufging und das Grauen begann. Denn was sich hinter dem blauen Tuch verbarg, war ein tiefer, dunkler, kultureller Abgrund. Ein Krater. Eine Gruft. Schon nach der ersten Szene wandt sich der Kultourist im Sessel. Die Mimik der beflissenen Schauspieler hätte Walt Disneys Dschungelakteuren zu Ruhm gereicht. Gegen die in Eisenach aufgebotene Albernheit wirkt das Ohnesorg- Theater wie die Bischofskonferenz. Und doch bot das Landestheater in Wahrheit eine völlige Neuheit, eine Revolution im Kulturbetrieb: Reality-Theater! In Eisenach nämlich wird nicht gemogelt wie sonst überall. In Eisenach machen sie Ernst. Platzpatronen waren es auf jeden Fall nicht, womit ein eifersüchtiger Akteur in der Hitze des Gefechtes um ein Haar einen riesigen Bühnenscheinwerfer vom Gestänge schoß. Waren es Restbestände der alten NVA-Munition, die auf kulturellem Wege entsorgt werden sollen? Egal, jetzt zumindest konnten die Kultouristen erstmals herzlich lachen, angesichts der verängstigten Schauspieler, die mißtrauisch zum baumelnden Equipement aufschauten. Nichts ist so lustig wie die Wirklichkeit, fand offenbar die Dramaturgin Susanne Schulz. Oder wer sonst hat die Schutzkappen von den Fechtdegen genommen? War es Fechtlehrer Hauschild, als Fan des Reality-TV? Oder eine Nebenbuhlerin der Beatrice-Darstellerin Chun Mei Tan? Die nämlich wurde das Opfer des wirklichkeitsgetreuen Degenkampfes: Ausgerechnet Fechtprofi Hauschild, eingesetzt als Figur Silvio, bohrte ihr, vom Lampenfieber enthemmt, seine Degenspitze ins Auge. Selbiges tränte, der Vorhang fiel. Der Theaterdirektor erklomm die Bretter, die das Augenlicht bedeuten, und rief nach einem Arzt. Banges Warten. Wird sie überleben? Eine halbe Stunde später war das Auge gerettet, es konnte weiter geschauspielert werden. Ob mit Augenklappe à la Seewolf oder als Piratenprinzessin, bleibt unbekannt. Wer ein kluger Kultourist ist, war längst getürmt.