Per pedes über Stock und Stein

■ Wander-Tourismus: Letzter Schrei oder Schritt zurück?

Tourismus ist die Fortsetzung des Imperialismus mit anderen Mitteln. Ohne Zeifel. Wer's nicht glaubt, soll selber hingehen – dorthin, wo vor 10 oder 15 Jahren noch die Idylle herrschte und der Zauber der Fremde erfahrbar war. Diese Qualitäten sind weg. Wer sie jetzt an anderen Orten, in exotischen Ländern und auf unentdeckten Inseln, sucht, bringt sie auch dort zum Verschwinden. Daß man nicht mehr einfach an alten Reisegewohnheiten anknüpfen kann, ist durchaus positiv: Wenn die eigene Urlaubsbiographie fragwürdig wird, fallen Tabus und Vorurteile. Dann werden Urlaubsformen wieder attraktiv, die viel zu lange unbeachtet blieben. Nicht zuletzt jener Aufenthalt in der Natur, der mehr als zwei Jahrzehnte im Verdacht einer mangelhaften Bewältigung der Vergangenheit stand, mit körperlicher Selbstbewegung verbunden ist, gemeinhin Wandern genannt wird. Und in der Tat haben selbst eingefleischte Alternativurlauber inzwischen nicht selten die Wanderschuhe aus einer Ecke hervorgekramt, wohin sie das politische Ressentiment verbannt hatte: aus der Mottenkiste.

Zieht es uns wirklich in heimischere Gefilde wie das klassische Urlaubsgebiet der Alpen zurück? Oder liegt in der Renaissance des Wanderns bloß eine Notlösung, eine Reaktion darauf, daß alles andere nicht mehr geht? Kann Wandern überhaupt umweltverträglich sein, wo es doch mitten in der Natur stattfindet?

Ökologisch gesehen keine Frage: Zufußgehen ist ressourcenschonend. Auch per pedes durchs Gebirge bedeutet den geringsten Eingriff in die Landschaft – solange man auf den Wegen bleibt, die es immer schon gibt. Und solange man Wandern nicht als Mittel begreift, auch dorthin noch vorzudringen, wo menschliche Nutzens- und Verfügungsinteressen ihre Grenze und Naturlandschaften ihre Ruhe gefunden haben. Ebenso klar: Der dezenteste Weg, den Einheimischen entgegenzutreten, sind die traditionellen Wirtschafts- und Verbindungswege. Die Einheimischen kennen die Wege, auf denen die Wanderer ankommen. Ihr Leben hat sich auf ihnen abgespielt. Deshalb stellt sich bei der besuchten Bevölkerung jene Offenheit her, die beim Vorfahren auf vier Rädern immer schon unterbunden ist.

Der integrative Effekt liegt aber bereits im Wesen der Fortbewegung. Wandern ist zweck-los. Es dient nicht der Befriedigung bestimmter Bedürfnisse, reduziert das Urlaubsgeschehen nicht auf die Suche nach lohnenden Zielen, nach dem Einmaligen. Wandernd unterwegs sein bedeutet – ganz im Gegenteil –, sich offenzuhalten für das, was die besuchte Region „von sich aus bietet“, wenn man sie ziellos durchquert, sie in ihrer Gänze kennenlernt, indem man sie durchschreitet. Es bedeutet, sich vom Gesehenen vereinnahmen zu lassen, TeilnehmerIn von Begegnungen zu werden, die nicht durch im Rucksack mitgebrachte Interessen präformiert sind. Es bedeutet auch, sich jener „Selbstbegegnung“ des leistungs- und abenteuerfixierten Alpensportlers zu verweigern.

Wandern ist also mehr als eine spezielle Vorliebe und Urlaubsgestaltung unter anderen. Es bietet nicht nur eine ganz eigentümliche Intensität des Erlebens, sondern ist auch die Reiseform, bei der sich Perspektivenwechsel und Selbstzurücknahme vollziehen, sich das Verhältnis der Herrschaft gewissermaßen umkehrt. Mit der Souveränität des eingeschlossenen genießenden Subjekts verliert sich allerdings auch die Kompetenz, an Zerstörungen der Umwelt vorbeizusehen. Offenzubleiben für das, was die Gegend von sich aus zeigt, heißt auch: Wahrnehmung selbst jenes Eingriffs, den der „sanfte“ Tourismus selbst darstellt.

Daß die entsprechende Unternehmung nicht bloß „Kopftour“ und „Reflexionsmartyrium“ wird, dafür sorgt die Form des Unterwegsseins selbst. Sie überläßt uns nicht der ermüdenden Kalkulation ethischer und ökologischer Probleme, zieht uns vielmehr aus diesen zuletzt unproduktiven Strukturen heraus. Sie ist selber schon produktiv, indem sie uns unausweichlich dem nahebringt, was nicht selber Denken oder Produkt des Denkens ist. Man spürt geradezu die Unzuständigkeit nüchterner Reflexion, wird hineingezogen in ein pragmatisches Verhältnis zum anderen der Natur. Und sei es nur durch ihre überall sichtbare Zerstörung. Das weitläufige Durchstreifen besiedelter Landschaften beruhigt auf eine Weise, die nicht die Form der Selbstüberredung und Alibibeschaffung hat. Sie gewährt eine gemächliche und ruhige Art der Urlaubsstimmung – eine Stimmung, die nicht in Enthusiasmus, aber auch nicht in Resignation kippen kann. Vielleicht liegt genau hier jenes ganz andere, das wir beim geographisch und klimatisch ganz anderen vergeblich suchen.

Daß sich die körperliche Anstrengung lohnt, unsere Auffassung bereichert, deshalb erfüllt, statt uns in Strapaze und Dauerreflexion zu stürzen, muß man allerdings selbst erleben. Sich auf die Kraft verbaler Beweisführungen und die Selbstgenügsamkeit von Abhandlungen verlassen zu wollen hieße nichts anderes, als den allerorts vernehmbaren Ruf nach einem Umdenken nicht ernst genug zu nehmen. Umdenken ist eine Form des Draußenseins ohne den Rückhalt rationaler Verfahrensregeln und letzter Sicherheiten. Es gehört in das Feld der Exponierung, nicht in das vorschneller Beruhigungen. Man muß sich aufmachen, die Begegnung wagen – sich auf den Weg machen. Gerhard Fitzthum

Vom Autor liegt ein weiterführender Text vor zur Unzuständigkeit der Rationalität in der Frage ökologischen Umdenkens: „Das Ende der Menschheit und die Philosophie“ (Focus-Verlag Gießen)