: Schrittweise im Müßiggang
Die Fußreisenden um 1800 suchten gesellschaftliche Wirklichkeit jenseits vorgebahnter Wege ■ Von Friedemann Schmoll
Schwitzen? Der harten Arbeit wegen, ja. Aus purem Müßiggang? Niemals! Für die Bauern auf der Schwäbischen Alb war das rauhe Mittelgebirge vor 200 Jahren allenfalls eine mühsam zu beackernde Lebensgrundlage, aber keinesfalls Kulisse für erhebenden Naturgenuß. „Gerade so konnten hier diese guten Leute nicht begreifen, was es uns wohl für ein Vergnügen machen könne, wenn wir in der brennenden Sonnenhitze Berge hinaufkletterten, um auf dem Gipfel ein Bißchen weiter zu sehen, als auf der Ebene, und in seinem eingeschränkten Gesichtspuncte hatte ein Bauer, der uns begleitete, ganz Recht, wenn er einen Berg ein wüstes Ding hieß.“ So begriff Christoph Heinrich Pfaff die sozialen Bedingungen ästhetischer Naturwahrnehmung, als er den 869 Meter hohen Roßberggipfel bestieg. In der Ostervakanz des Jahres 1792 war der Zögling der Stuttgarter Hohenkarlsschule zu einer siebentägigen Wanderung auf die Schwäbische Alb aufgebrochen, über die er Jahre später in einem anonym veröffentlichten Reisebericht schrieb: Phantasien und Bemerkungen auf einer Fußreise durch einen Theil der schwäbischen Alpe. Von einem jungen Weltbürger und Freunde der Naturwissenschaft.
Daß da einer aufgebrochen war, um freiwillig auf beiden Beinen durch die Welt zu streifen, war alles andere als selbstverständlich. Wer um 1800 zu Fuß ging, tat dies aus nackter Not. Angetrieben von Mangel, kaum aber wie Pfaff beseelt vom Wunsch, „eine angenehme Luft- und Weltveränderung zu machen“. Wandern aus reinem Selbstzweck, „das frohe durchstreifen der natur, um körper und geist zu erfrischen“, sollten die Gebrüder Grimm erst 50 Jahre später als eine bemerkenswerte Bewegung registrieren, die erst „die neuere Zeit kennt“.
Für Pfaff dagegen, den wie viele Stuttgarter Studiengenossen die Ideen der Französischen Revolution gehörig angestachelt hatten, war die Bewegung Programm – lange bevor im 19. Jahrhundert das Wandern zur vaterländischen Tugend und zur touristischen Massenveranstaltung verkommen sollte. Sich aus eigener Kraft durch die Lande zu bewegen verhieß in einer absolutistischen Welt, die den jungen Bürger zur Unmündigkeit verdammte, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Die Haltung des aufrechten Gangs war Protest gegen die drückende Enge deutscher Kleinstaaterei – aber auch gegen aristokratische und großbürgerliche Reiseformen. Der Gelehrte Friedrich Nicolai, der 1781 Deutschland und die Schweiz bereiste, hatte vorab minuziös die Aufenthaltsdauer an jedem Ort festgelegt und die respektierlichen Personen, die er einer Visite wert erachtete, herausgepickt. So sollte er auf seinen Reisen nur das vorfinden, was er ohnehin schon wußte. Wenn er in seiner zwölfbändigen Reisebeschreibung einleitend proklamierte: „Auf einer großen Reise ist ein bequemer Reisewagen, was im menschlichen Leben eine bequeme Wohnung ist“, dann steckt darin nur die Sehnsucht nach Schutz vor allzu rauher Reisewirklichkeit.
Gegen eine solche Praxis, die Reiseerfahrungen auf Spekulationen und Imaginationen in abgeriegelter Extra-Post zu beschränken, liefen Spätaufklärer wie Johann Gottfried Seume, Georg Forster oder Georg Friedrich Rebmann an. Oder der Arzt und Hölderlin- Freund Johann Georg Ebel: „Wer zu Fuß reiset, hängt einzig nur von seinem Willen und seinem Vergnügen ab; diese Freyheit ist unbeschreiblich angenehm.“ Und weiterwetternd in seiner Anleitung, auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweiz zu bereisen: „Wie viele Hohlköpfe rollen in Kutschen durch die Länder Europas ohne Nutzen und Frommen weder für sich selbst noch für andere, während so viele vortreffliche Köpfe ohne Glücksgüter an einem Punkte wie eine Pflanze festgewurzelt sind.“
Genuß und Nützlichkeit. Mit dieser Melange, bei der sich sozialkritischer Impetus mit der Empfindsamkeit der Reisenden vereint, sich zum aufklärerischen Imperativ der Nützlichkeit die wohltuenden Wirkungen bereister Landschaft gesellen, gehören die Schilderungen von Fußreisen zur besonders reizvollen Variante bürgerlicher Reiseberichte. Damit stehen sie im Gegensatz zu den blasierten Beschreibungen aristokratischer Kavalierstouren oder den drögen Statistiktabellen nüchterner Gelehrter. So unterschied Pfaff, als er seinen Gang über das süddeutsche Juragebirge niederschrieb, „nüchterne Bemerkungen“ zu naturwissenschaftlichen Merkwürdigkeiten von den in der Französischen Revolution genährten „Phantasien“.
Pfaff wollte zurück in die Wirklichkeit. Zu Fuß. Es war nicht zufällig das eigene Vaterland, das er zusammen mit zwei Mitstudenten erkundete. Die Alb, kaum fünfzig Kilometer von der Landeshauptstadt sich steil emportürmend, war für die Studiosi Terra incognita. „Schon oft“, berichtet Pfaff, „hatte ich mich in den Anblick der Alpe voll Wonne verloren, der Alpe, die ein tausendzakkigter Gebürgswall vom fernen Westen nach dem fernen Osten in blauer Majestät zum Himmel erhob. Da zauberte ich mich dann auf diese oder jene Höhe derselben, die mir mit einer alten Trümmerburg entgegenstrahlte, und mahlte mir die Aussicht, die ich auf derselben genießen würde.“
In den Osterferien 1792 war es soweit. Die Stuttgarter Residenz schlummerte tief, als die Reisegesellschaft um 2 Uhr nachts gen Süden aufbrach. Rasch ging es hinauf auf die Filderebene, wo die aufgehende Sonne erste Anstrengungen belohnte. Zielstrebig steuerte die Clique auf Tübingen zu. Der vor Selbstbewußtsein strotzende Wissenschaftler hatte wenig übrig für die 1477 von Eberhard im Barte gegründete Landesuniversität. Botanischer Garten, Bibliothek und das Observatorium seien allesamt „in einem erbärmlichen Zustand“. Fazit: „Es ist unläugbar, daß Tübingen nie mehr den Flor, den es einst hatte, erhalten wird.“
Doch den Wandersleuten ging es neben Kritik an den in Augenschein genommenen Verhältnissen auch um gänzlich eigennützige Motive: „Unser Herz suchte vorzüglich auch Genuß. Es war uns hauptsächlich um das reine Vergnügen zu thun, das der Anblick der schönen Natur einem gefühlvollen Herzen in so vollem Maase zu gewaehren im Stande ist.“ Das fand Pfaff am nächsten Tag, als der erste Albberg bei Reutlingen erklommen wurde. Vor der Reisegesellschaft türmte sich ein Vorbote des Juragebirges auf: der freistehende Bergkegel der 705 Meter hohen Achalm. Wenn Pfaff den ungetrübten Naturgenuß proklamierte, dann war das nur die halbe Wahrheit. Ihm ging es nicht um schönen Schein, sondern um die Lebensbedingungen, unter denen die Leute auf dem karstigen Gebirge lebten. Er wetterte gegen die Plage des herzoglichen Jagdwesens, die die Landarbeit auf dem ohnehin schon kärglichen Gefilde unrentabel ausfallen ließ. So mündete auch die Schau der grenzenlosen Aussicht von der Achalm herab in reichlich romantisierende Reflexionen über das württembergische Staatswesen. „Ich lehnte mich an eine der verfallenen Mauern. Soweit mein Auge reichte, sah ich die Erde in verjüngter Pracht. Ich bewunderte die Güte der Natur, wie sie die Oberfläche des Planeten so wohlthätig errichtet.“ Im Anblick der Ruinen und des fruchtbaren Landes vergegenwärtigte sich Pfaff eine intakte Welt des Mittelalters. Unweigerlich leiten die Imaginationen einer fernen Vergangenheit über in aufmüpfige Ratschläge an den absolutistischen Herrscher, denen er Folge leisten könnte, wenn er nicht in dumpfen Stadtmauern, sondern hier oben residieren würde: „Der erste Blick (...) des Morgens (...) würde euch an eure Regentenpflichten erinnern. So weit euer Blick reichte, würdet ihr Städte und Dörfer ausgesäet sehen, bewohnet von unzähligen Menschen, welche alle Anspruch auf eure unermüdliche Sorge und Thätigkeit für die Bevörderung ihres Wohls machen, und welche euch nur darum so hoch hoben, damit ihr diese Ansprüche mit allen euren Kräften befriedigt.“ Nach dem Achalm- Abstieg schlug das Wandertrio den Weg nach Zwiefalten ein, „bloß wegen der ganz neuen Weltansicht, die wir daselbst zu genießen hofften“. Am Nordrand der Alb hatte man ihnen erzählt, daß vom Südrand des Mittelgebirges bei klarer Sicht die Alpen zu sehen seien. Die exotische Ferne des Schneegebirges versprach Verheißungsvolles, die naiven Träumereien mündeten beim Anblick der Eisberge in harsche Zivilisationsschelte. „Nun mahlte mir meine Phantasie vollends die unübertrefflichen Alpthäler mit ihren unschuldigen Natur-Menschen vor“, denen Glück vergönnt sei, „weil sie nichts begehren, als was die gütige Natur jedem Sterblichen im Ueberfluß reicht; weil sie keine Bedürfnisse erkünsteln, deren Erfindung Sorgen und Laster und Unglück auf diese Welt brachte.“
Lange vor der industriellen Revolution meldete sich in der bürgerlichen Intelligenz die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit. Tatsächlich war Reisen per pedes auch vor Erfindung der Eisenbahn symbolischer Protest gegen Fortschritt und praktisches Plädoyer für Selbstbestimmung. Wenn heutzutage der Postkutsche ein Schneckentempo nachgesagt wird, ist das nostalgische Verklärung. Lange bevor Stephensons Dampfrösser über Schienen schnaubten, war die Welt schneller geworden. Die Institutionalisierung des Postkutschenwesens im 18. Jahrhundert hatte, obzwar gemächlich, die Welt bereits geometrisiert und moderne Wahrnehmungsformen entwickeln lassen. Wanderer aber suchten Zwischenräume – und Langsamkeit.
Indes war der Albgang für das Wandertrio nur ein kurzer Ausbruchsversuch gewesen. Ein Jahr danach verließ Pfaff die Stuttgarter Karlsakademie mit Doktorhut. Er lebte drei Jahre als Lehrer in Italien; ein einsames Jahr fristete er als Arzt in dem Landstädtchen Heidenheim auf der Ostalb. Dann ereilte ihn ein Ruf an die Kieler Universität, wo er sein Leben als geachteter Physiker verbrachte. Als er vor seinem Tod 1852, fast ganz erblindet, seine Lebenserinnerungen diktierte, besann er sich seiner Fußreise über die Schwäbische Alb ein halbes Jahrhundert zuvor: „Ich selbst habe über diese Jugendarbeit bald strenge Kritik ergehen lassen.“ Altersweisheit? Eher Resignation. In seiner Einleitung hatte der Jüngling über seine Phantasien eines „jungen Weltbürgers“ noch selbstbewußter getönt. Es war „mein Erstes, daß ich auch gleich den Ursachen dieses Wohls und Wehes nachgrüble, und im Geiste der wahren Freyheit und Aufklärung, welche allein dieses Glück gründen kann, meine frommen Wünsche ergieße. Diesen Ausschweifungen überlasse ich mich um so gerner, weil sie mir jedesmal Gelegenheit geben, meine Ideen über die Ursachen und Umstände, welche die Aufklärung und das Wohl der Menschheit befördern oder hindern können, immer mehr zu entwickeln, immer mehr zu Prinzipien zu erheben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen