Mit Lenin in die neue Welt

Ein Besuch bei der Mittelschule Nr. 881  ■ Aus Moskau Ulrich Heyden

In der zweiten Klasse der Moskauer Mittelschule Nr. 881 scheint die realsozialistische Welt noch in Ordnung zu sein. Ruhig sitzen die Schüler in ihren kleinen, hellblauen Bänken. Nur selten gestatten sie sich einen vorsichtigen Blick zu dem unbekannten Gast. Die Schüler sind zwischen sechs und acht Jahren alt. Einige tragen Schuluniformen. Die Jungen blaue Anzüge, die Mädchen dunkelbraune Kleider und eine schwarze Schürze. Es werden Tiergeschichten gelesen, von Boris Schutkow, einem sowjetischen Schriftsteller. Sein Bild wurde an der Tafel angebracht. Schutkow mit Pelzmütze.

Über der Tafel hängt ein Bild Lenins. Auch in den anderen Klassenzimmern erinnert stets irgend etwas an die „Große sozialistische Oktoberrevolution“. Lenin, mal vorwärtsstürmend in Farbe, mal als Gipsrelief. „Lenin hängt da nur so“, meint Vera, eine junge Lehrerin, die mich begleitet.

Die Kinder melden sich artig. Dabei halten sie ein fest vorgeschriebenes Ritual ein: Der eine Arm wird vor die Brust gelegt, der andere Arm mit dem Ellenbogen senkrecht draufgestellt, die Hand flach nach oben gestreckt. Der senkrechte Arm federt leicht. Eine mühselige Prozedur. Zwischendurch gibt die Lehrerin Hinweise, wie man es richtig macht. In den oberen Klassen geht es nicht ganz so streng zu. Dort darf man den Arm beim Melden schon mal richtig ausstrecken.

Die Geschichten von Schutkow handeln von einem Fuchs, einem Elefanten und einer Elster. Nach dem Lesen wird nacherzählt. Dafür muß man aufstehen oder sich vor die Klasse stellen. Zwischendurch gibt es einen kleinen Wettbewerb. Wer kann am schnellsten nacherzählen? Früher, so die Lehrerin, wurden Geschichten von Lenin und den Pionieren gelesen, heute vor allem Geschichten aus der Tierwelt und der Natur. Politisches sei in den unteren Klassen kein Thema mehr.

Die Geschichtslehrerin war Kommunistin

In einer zehnten Klasse wird gerade Geschichte unterrichtet. Niemand trägt hier die Schuluniform. Einige Mädchen sind geschminkt. Vor einem Jahr war das noch verboten. Die Schuluniform war für alle Pflicht. Auch in dieser zehnten Klasse herrscht eine erstaunliche Ruhe und Disziplin. Es geht um die Industrialisierung und Kollektivierung in Rußland in den 20er und 30er Jahren. Die Schüler benutzen ein neues Buch, in dem verschiedene Dokumente veröffentlicht sind. Die Erinnerung eines Bauern an den großen Hunger in den 30er Jahren wird vorgelesen. Die Menschen aßen in ihrer Not Katzen und Mäuse.

Die Geschichtslehrerin Jelena Borisowna, eine resolute Frau von 50 Jahren, war bis vor zwei Jahren Kommunistin. Als Geschichtslehrer mußte man in der Partei sein. Offiziell, so Jelena Borisowna, hat sich die Repression in den 30er Jahren gegen die reichen Bauern, die Kulaken, gerichtet. In Wirklichkeit seien aber auch kleine Bauern betroffen gewesen. Viele Bauern wurden in Arbeitslager gezwungen. Die Regierung brauchte billige Arbeitskräfte für große Projekte wie den Weißmeerkanal und die Metro in Moskau.

Dann spricht Jelena Borisowna über die Obtschina, eine über tausend Jahre alte Form bäuerlichen Lebens mit Gemeineigentum. Die Obtschina, so Jelena, ist eine Tradition, die Rußland mit dem Osten verbindet. Sie ist eine Strafe für Rußland, eine Lebensform, die die Eigeninitiative der Bauern verhindert hat. Alle Landreformen seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts sind durch die Tradition der Obtschina behindert worden.

Diskussionen gibt es in dieser Stunde nicht. Die Schüler werden nur abgefragt, was sie von dem Stoff der letzten Stunde noch wissen. Später spreche ich mit einigen Lehrerinnen. Sie meinen, daß man heute als Lehrer viel mehr an Grundwissen vermitteln muß als früher. Die Schüler kämen heute völlig unvorbereitet in die Schule. Früher, da haben die Eltern mehr Zeit für sie gehabt. Die Jugendlichen lesen seit einigen Jahren auch keine Literatur mehr. Es werden nur noch Krimis und ähnliches gelesen. Früher war Literatur die Hauptquelle von Wissen. Heute ist es das Kino und Videos. Früher wurde noch „tief nachgedacht“, heute lebe die Jugend „ohne nachzudenken“.

Jelena Borisowna, die Geschichtslehrerin: „Heute gibt das Wissen keine materielle Basis für das Leben mehr. Deshalb orientiert sich die Jugend auf materielle Dinge.“ Es ist nicht so sehr die Nostalgie, die in diesen Worten mitschwingt. Viel mehr ist es die Meinung, daß die Schüler orientierungslos in diese neuen Zeit gehen. Einige Schüler aus einer zehnten Klasse wollen möglichst bald in einem qualifizierten Beruf Geld verdienen. Dann müßten sie aber doch noch zur Universität? Ja, leider, so die Antwort.

Ein großes Problem, meint Vera, ist die Gesundheit der Schüler. Viele Schüler haben Probleme mit den Augen. Es fällt ihnen schwer, sich zu konzentrieren und sich zu erinnern. Vera führt das auf den Vitaminmangel zurück. Auch der Alkoholismus der Eltern zeige bei den Schülern Wirkung. In den oberen Klassen gebe es viele Schüler, die sehr lernschwach sind, viele könnten nicht für ein paar Minuten stillsitzen. Für lernbehinderte Schüler gibt es wenig Angebote, berichtet Vera. Spezielle Klassen existieren für diese Schüler in der Schule nicht. Auf die wenigen Schulen für Lernbehinderte möchten viele Eltern ihre Kinder nicht schicken.

Die Mittelschule Nr. 881 hat einen guten Ruf. Die Lehrer gelten als besonders qualifiziert. Von der Stadt Moskau wurden sie dafür ausgezeichnet. Olga Wjatscheslawowna, eine junge Lehrerin für Literatur, aber meint: „Das ist die öffentliche Meinung. Diese Schule ist nicht besser als andere.“

Die Schüler gehören verschiedenen Nationalitäten an. Es gibt vor allem Russen, aber auch Ukrainer, Weißrussen, Tataren und Juden. Probleme zwischen den Nationalitäten gibt es nach Aussage der Direktorin, Irina Nikolajewna, nicht. Wenn sich aber in der Gesellschaft die nationalen Konflikte verschärfen, so werde sich das auch auf die Schule auswirken.

Vera berichtet, von den 50 Lehrern waren früher 30 Kommunisten. Heute seien es nur noch drei. Sie werden im Kollegium akzeptiert. Der Lehrerberuf wird in Rußland in erster Linie von Frauen ausgeübt. Die Bezahlung und das Prestige des Berufes sind niedrig. Fünf Männer unterrichten an der Mittelschule Nr. 881, Sport und Arbeitslehre.

Die Schule, das ist ein großes, rechteckiges Gebäude im Süden Moskaus, im Sowjetskij Rayon, einem Neubauviertel. Vor 20 Jahren gab es hier noch verschiedene Dörfer. Die Schule hat 1.000 Schüler im Alter von sechs bis 17 Jahren. Wegen Raummangels werden die Schüler in zwei Blöcken unterrichtet, vormittags und nachmittags. Wenn die Kinder zu Hause sind, müssen sich die Großeltern um sie kümmern. Die Kinder, die zu Hause nicht betreut werden können, machen in der Schule unter Aufsicht Hausaufgaben. Der Unterricht dauert sechs Stunden, in der ersten Klasse vier bis fünf Stunden. Mittagessen gibt es in der Schule. Für Familien mit drei und mehr Kindern ist das Mittagessen umsonst. Für die anderen Schüler ist das Mittagessen nur eine Woche im Monat umsonst.

Die Mittelschule wird in Rußland von allen Schülern besucht. Wer keinen höherqualifizierten Beruf anstrebt, verläßt die Schule nach der neunten Klasse und geht auf ein Technikum oder College, wie es heute modern heißt. Seit fünf Jahren läuft an der Mittelschule Nr. 881 ein Reformprogramm. Die Schüler können sich jetzt in den letzten beiden Klassen spezialisieren, auf Chemie, Mathematik oder Geschichte. Die Direktorin Irina Nikolajewna ist stolz auf dieses Programm. Es wird organisiert zusammen mit verschiedenen Moskauer Universitäten.

In speziellen Kursen werden „die klügsten“ Schüler ausgesucht. „Zwischen den Schülern gibt es einen Wettkampf“, meint die Direktorin. Wer die Abschlußprüfung in einer 11. spezialisierten Klasse bestanden hat, kann ohne Aufnahmeprüfung an der entsprechenden Universität das Studium beginnen. Bisher hätten die Prüfung alle geschafft, meint die Direktorin.

Olga Wjatscheslawowna hält dagegen nicht viel von der Spezialisierung. „Die spezialisierten Klassen, das ist künstlich. Wenn diese Klassen zusammengestellt werden, gibt es keinen richtigen Wettbewerb. Viele Schüler sind an den Schwerpunktfächern nicht wirklich interessiert, sondern wollen nur nicht zur Berufsschule.

Literatur ohne offizielle Interpretation

Die Unterrichtsgestaltung ist heute viel freier als früher. Die Lehrer können Themen auswählen, die der Staat vorschlägt. Vera Mefodiewna, Lehrerin für Literatur, berichtet, daß sie heute im Unterricht Schriftsteller behandelt, die früher völlig unbekannt waren, wie Achmatowa und Pasternak. Über diese Autoren gibt es noch keine offiziellen Interpretationen. Das sei ein Vorteil. So können die Schüler diese Schriftsteller selbst beurteilen. Das Beschaffen der Texte sei aber oft sehr schwierig. Man muß sie aus Bibliotheken besorgen oder über private Beziehungen organisieren. Das ist nicht einfach, aber das „Organisieren“ von fehlenden Dingen gehört hier zum täglichen Leben.

Früher, so berichtet Olga, wurde im Unterricht keine ausländische Literatur behandelt. Heute macht sie im Unterricht Vergleiche zwischen ausländischen und russischen Autoren, zum Beispiel Anton Tschechow („Der Heiratsantrag“) und Bernhard Shaw („House of Broken Hearts“) oder Jewgenij Samjatin („Wir“) und Aldous Huxley („Brave New World“). Und während früher im Unterricht vor allem das Leben „aktiv handelnder Personen“, wie etwa von Parteiführern, behandelt wurde, geht es heute vor allem um psychologische Probleme, Fragen der Moral und der Geschichte. „Jeder hat heute Probleme mit der Orientierung.“ Olga kommt heute oft ohne festes Programm in den Unterricht. Denn die Schüler haben heutzutage viele Fragen. Oft gibt es keine oder mehrere Lösungen. „Es ist sehr interessant, diese Fragen im Unterricht zu diskutieren.“